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Arte-Serie über eine dysfunktionale Familie

Seit Emily als Kind entführt wurde, stimmt kaum noch etwas in der Millionärsfamilie Schwarz. Als die erwachsen gewordenen Geschwister und ihre Eltern zu einer Feier zusammenkommen, implodieren die Rollen und Beziehungen.

“Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.” Die Millionärsfamilie Schwarz gehört ohne Zweifel zur zweiten Fraktion. Und der berühmte Satz, mit dem Leo Tolstoi seinen Roman “Anna Karenina” begann, stimmt – und stimmt hier zugleich doch auch nicht. Denn diese im Kern sechs Personen sind einerseits recht speziell in ihrem gemeinsamen Eiertanz um Emily, die jüngste Schwester, die als Kind entführt wurde.

Ein Ereignis, das das Mädchen traumatisierte und das Familiengefüge nachhaltig erschütterte. Doch in ihrem Bemühen, nach außen hin eine heile Fassade aufrechtzuerhalten, in ihrem Suchtverhalten und ihrem Schweigen, wenn es “echt” zu werden droht, ähnelt Familie Schwarz durchaus anderen zerrütteten Familien. Auch die unterschiedlichen Rollen, die die Familienmitglieder einnehmen, wirken fast wie eine Blaupause für komplizierte familiäre Konstrukte.

Die sechsteilige Mini-Serie “Haus aus Glas”, die Arte am Donnerstag, den 4. Januar ab 20.15 Uhr ausstrahlt, blättert ein Figurenrepertoire auf, das aus bekannten Typen besteht. Diese werden jedoch derart fein und überzeugend ausgestaltet, dass sie von der ersten bis zur letzten Minute zu fesseln vermögen.

Da ist die zarte, labile Emily (Sarah Mahita). Die stets um Ausgleich bemühte, pragmatische Leo (Morgane Ferru). Die widerspenstige, kritische Eva (Stefanie Reinsperger) – und der melancholische, introvertierte Felix (Merlin Rose). Und da sind deren Eltern: Die äußerlich kühle, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht gewordene Künstlerin Barbara (Juliane Köhler) sowie Richard (Götz Schubert), der sich wie stets auf den ökonomischen Part beschränkt – darauf, Vermögen und Firma zusammenzuhalten.

Diese spannenden Charaktere mit ihren nuancenreichen, in sich stimmigen Beziehungen, Konflikten und Hierarchien bilden das Zentrum der Drama-Serie. Ersonnen wurden sie von Head-Autorin Esther Bernstorff und deren Ko-Autorinnen Annika Tepelmann, Annette Simon und Stefanie Misrahi; gespielt werden sie von durchweg tollen bekannten wie weniger bekannten Darstellern. Und Regisseur Alain Gsponer führt dieses herausragende Ensemble mit sicherer Hand: Jede Figur bekommt ihre intensiven ganz eigenen Momente – und vermag zugleich problemlos neben den anderen starken Charakteren zu bestehen.

Ausgangspunkt der Story ist die Hochzeit von Emily, zu der alle zusammenkommen, das erste Mal seit Jahren. Die Eltern und die erwachsenen Geschwister plus Anhang treffen sich in dem sicherheitstechnisch hochgerüsteten Familien-Bunker mit den großen verglasten Fronten wieder, irgendwo im Grünen zwischen Aachen und Neuss. Es bleibt bewusst offen, ob sich der Titel auf dieses Gebäude oder das daneben liegende Gewächshaus bezieht, aus dem Emily als Sechsjährige entführt wurde. Klar jedoch wird, dass der Familienmittelpunkt, der zugleich der Ort des Verbrechens ist, alle Beteiligten auch Jahrzehnte später noch in seinem Würgegriff hat.

Fast scheint dieses (Eltern-)Haus magische Kräfte zu haben, alle immer wieder anzuziehen – ob sie nun wollen oder nicht. Ein wirklich eigenständiges Leben zu führen, selbst Verantwortung zu übernehmen: Das bekommt keins der Geschwister hin. Auch, weil die Vergangenheit nie verarbeitet, sondern totgeschwiegen wurde. Als dann Emilys Mann Chris auf der Hochzeitsreise spurlos verschwindet, weckt das Assoziationen zu damals, tun sich Ängste und Sollbruchstellen auf…

“Haus aus Glas” ist ein Familiendrama mit Thriller-Elementen. Und es ist der seltene Glücksfall einer Produktion, die in tatsächlich jeder Hinsicht überzeugt. Ein hervorragendes Drehbuch, umwerfende Schauspieler und eine präzise Regie werden stimmig ergänzt durch die gelungenen Beiträge der anderen Gewerke, etwa Szenenbild, Kamera, Kostüm und Musik. Das Ergebnis ist fesselnd, berührend und atemberaubend gut – komprimiert abzulesen etwa an der Szene, in der Emily zum ersten Mal wirklich wieder frei ist, nachts alleine durch den Wald rennt – eine ganz und gar herzzerreißende, spannende und sogar lustige Sequenz.