Der chinesische Staat bespitzelt seine Bürger, flächendeckend und mithilfe “smarter Technologie”. Widerständige Menschen werden so schnell identifiziert – ein beklemmender Film stellt sie und ihren Freiheitskampf vor.
Man stelle sich vor, man will das Haus verlassen, um das Kind zur Schule zu bringen. Doch da stehen Leute, die sagen, dass man nicht raus dürfe. Das Kind aber dürfe man ihnen gerne überlassen, sie würden sich kümmern. Später richten sich die Unbekannten häuslich ein, stellen Klappstühle auf. Während der eingesperrte Junge (die Eltern haben sich geweigert, ihn den Fremden zu übergeben) immer und immer wieder mit dem Kinn über den Tisch reibt, wie ein Tier mit Käfigkoller, sitzen vor der Wohnungstür die Bewacher, gelangweilt in ihre Handys starrend.
Welch ein Bild für eine misstrauisch und apathisch gewordene, von Überwachung und Unfreiheit zermürbte Gesellschaft. Umso erstaunlicher, wie die Protagonisten des Dokumentarfilms “Was China der Welt nicht zeigt – Total trust”, den Arte am 20. August von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, sich trotz aller Repressionen ihren (Lebens-)Mut bewahren.
Im Film geht es um drei “Fälle”: die Familie des Anwalts Quanzhang Wang, an dessen Tür sich die eingangs geschilderten Ereignisse abspielen. Wegen “Subversion” saß er fünf Jahre im Gefängnis und wird seit seiner Rückkehr, erstritten unter anderem durch den Protest seine Frau Wenzu Li, streng überwacht. Außerdem die Menschenrechtsaktivistin Zijuan Chen und ihr Sohn Tutu, die unermüdlich für die Freilassung ihres Mannes und Vaters, des Anwalts Weiping Chang kämpfen. Sowie die Journalistin Sophia Xueqin Huang, die wegen ihrer kritischen Texte mundtot gemacht wird.
Staatschef Xi Jinping und seine Kommunistische Partei setzen auf Digitalisierung – und die uralte Methode des Denunziantentums. 170 Millionen Kameras beobachten die Chinesen bereits heute; weitere 400 Millionen sollen demnächst dazukommen. So werden Bewegungsmuster erstellt, Proteste im Keim erstickt, kurz: missliebige Personen in Schach gehalten.
Dazu kommen die vielen Freiwilligen, die über das “Sozialkredit-System” Punkte verdienen wollen: Denn die entscheiden darüber, ob man einen Kredit bekommt oder Karriere machen darf. Die Ehrenamtlichen halten Ausschau nach Falschparkern, Müllsündern, nicht angeleinten Hunden. Einen ähnlichen Job machen die 4,5 Millionen “Sektorenbeauftragten”: Verdächtige Nachbarn beobachten und notieren, wann das Zielobjekt den Müll rausbringt.
Auch wenn manches wie Realsatire klingt: Witzig ist nichts an diesem System. So wurde der im Juni 2024 endlich freigelassene Weiping zehn Tage lang in ein “Foltergestell” gesteckt, zwei seiner Finger sind bis heute taub. Vor allem aber sind es unabsehbare psychische Folgen, die die Betroffenen und deren Angehörige davontragen.
Regisseurin Jialing Zhang richtet den Blick immer wieder auf die Kinder: Es lässt sich nur erahnen, was das autoritäre Regime in deren Seelen anrichtet. Tutus Leben dreht sich um den abwesenden Vater; er schreibt Petitionen oder ruft vor dem Gefängnis nach ihm – so herzerweichend wie erfolglos.
Die Filmemacherin hat “remote” gedreht, aus der Ferne – weil sie nach ihrem nicht minder beeindruckenden Film “Land der Einzelkinder” (in Co-Regie mit Nanfu Wang) über die brutale Ein-Kind-Politik Chinas nicht mehr einreisen darf. Anzumerken ist das “Total trust” nicht, die Doku vermittelt den Eindruck großer Nähe, fast Intimität.
Der vielschichtige Film überzeugt auch auf visueller Ebene mit einer Mischung aus kammerspielartigen Szenen, Aufnahmen aus Überwachungskameras und erschütternden Archivbildern etwa aus der Corona-Zeit, gegengeschnitten mit Xi Jinpings Traum: Futuristische Bauten und Parteiveranstaltungen, bei denen die Menschen einzig als den “Fortschritt” bejubelndes Beiwerk dienen.
Die Chinesen seien wie der sprichwörtliche “Frosch im Kochtopf” (der nicht merkt, wie er bei lebendigem Leib gekocht wird), formuliert es die Journalistin Huang einmal. Sie wurde nach Ende der Dreharbeiten verhaftet und vor wenigen Wochen wegen “Untergrabung der Staatsmacht” zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Vollkommen zu Recht hat dieser Film beim “Deutschen Dokumentarfilmpreis” 2024 die Haupttrophäe erhalten: “Total trust” ist ein erschütternder, zutiefst beklemmender Einblick in eine menschenverachtende digitale Diktatur.