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Arte-Doku über “das Maskottchen von Auschwitz”

Eine sehenswerte Doku porträtiert Dany Dattel, der als Kind Auschwitz überlebte, stets auf der Suche nach Heimat war – und im antisemitischen Nachkriegsdeutschland zum Sündenbock für eine Bankenpleite gemacht wurde.

568 Tage lang saß er da, immer auf derselben Treppenstufe: Dany “Peter” Dattel, drei, vier, am Ende fünf Jahre alt. Tag für Tag, über Stunden sich selbst überlassen. Hörte die Schmerzensschreie der Frauen in Block 10 – darunter seine Mutter -, an denen ohne Narkose Zwangssterilisationen durchgeführt wurden. Traf auf den SS-Mann, der sich jedes Mal einen Spaß daraus machte, dem kleinen Jungen mit Erschießung zu drohen. Oder spielte mit Steinchen im Hof nebenan – da, wo die berüchtigte Todeswand war: Hier wurden bis aufs Skelett ausgemergelte Häftlinge per Genickschuss ermordet.

Dany Dattel überlebte Auschwitz – als einziges von 8.000 jüdischen Berliner Kindern, die in das Vernichtungslager gebracht wurden. Der Dokumentarfilm “Verfolgt – Das Maskottchen von Auschwitz”, den Arte am 23. Mai von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, erzählt eine schier unglaubliche Lebensgeschichte – deren Außergewöhnlichkeit mit Dattels Befreiung aus dem Konzentrationslager noch lange nicht vorbei ist.

Die Filmemacher Christel Fomm (Buch und Konzeption) und Christian Twente (Regie) lassen den über 80-Jährigen Mann selbst seine Geschichte erzählen, begleiten ihn auf seiner ersten Reise zurück nach Auschwitz und zu weiteren zentralen Stationen seines Lebens. Im Februar 2023, vier Monate nach den Dreharbeiten, verstarb Dany Dattel.

Kaum vorstellbar, was dieser Mensch in frühesten Lebensjahren erleiden, was für Ängste er durchstehen, welche Grausamkeiten er mit ansehen musste. “Niemand wird diesen Ort jemals wieder los!”, sagt die Sozialpsychologin Angela More im Film – und meint dabei vor allem Erwachsene. Was einer der brutalsten Orte der Menschheitsgeschichte mit einer Kinderseele angerichtet haben mag, ist vermutlich noch schwerer zu greifen.

Und doch wirkt Dattel in sich ruhend, sanft, äußerst warmherzig – und ja, auch humorvoll. Vor der Kamera zeigt er sich fast schmerzhaft offen, erzählt etwa von dem später schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter, die im KZ seine “Beschützerin” und “Löwin” gewesen sei. Und das, nachdem er die Medien jahrzehntelang gemieden hatte.

Schon bei seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1947 wurde er medial gefeiert und “rumgereicht wie ein wiedergefundenes Paket”, wie es hier heißt. Später sollte Dattel deutlich schlimmere Erfahrung mit den Medien der deutschen Nachkriegsgesellschaft machen: nach der Pleite der Herstatt-Bank, für die er als Devisenhändler große Gewinne erwirtschaftet hatte.

Als die Kölner Bank wegen ihrer riskanten Geschäfte 1974 zusammenbrach, war er plötzlich wieder “der Jude”. Die altbekannten antisemitischen Klischees wurden schamlos aufgegriffen, Dattel von seinem Chef Iwan Herstatt sowie dem Großaktionär der Bank, Hans Gerling, zum Sündenbock gemacht. Dany Dattel saß zehn Monate in U-Haft, die Traumata kehrten zurück. Nach unzähligen Gutachten wurde ihm endlich das bekannte “KZ-Syndrom” bescheinigt, er für vernehmungsfähig erklärt. Die Hetze gegen ihn und seine Familie aber ging weiter. Dattel nennt diese Zeit seine “zweite Verfolgung”.

Einen äußerst sehenswerten, so sensiblen wie informativen Film haben Fomm und Twente geschaffen: Es ist das Porträt eines Mannes, der sich kurz vor seinem Tod die Deutung über sein Leben zurückzuholen sucht. Aber auch ein erschütternder historischer Einblick in die Ungeheuerlichkeiten des Nazi-Regimes und den anhaltenden, erschreckend offen ausgelebten Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland. “Verfolgt” versetzt aktuelle Aufnahmen mit zahlreichen Archivbildern, Fotos, Videos, Dokumenten. Dazu werden dezent gestaltete, stimmig gespielte Reenactment-Szenen und sorgfältig ausgewählte Experteninterviews gestellt.

Ein zurückhaltender Off-Kommentar ergänzt das dramaturgisch fesselnd erzählte Geschehen auf der Bildebene. Leise Kritik gibt es lediglich für die allzu großflächig verwendete Musik und den punktuellen Einsatz von Zeitlupe: Effekte, die diese ungeheuerliche Lebensgeschichte ebenso wie die eindrückliche Warnung vor dem ewig wiederkehrenden Gespenst des Antisemitismus nicht nötig hat.