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ARD-Weltspiegel-Doku “”Rechtes Paradies – Deutsche in Ungarn”

Die Weltspiegel-Doku “Rechtes Paradies – Deutsche in Ungarn” besucht Politflüchtlinge am Plattensee und geht damit ohne erhobenen Zeigefinger über unpolitische Auswanderer-Soaps wie “Goodbye Germany” hinaus.

Der Balaton, wegen seiner enormen Ausmaße auch “Ungarisches Meer” genannt: Das größte Binnengewässer Mitteleuropas ist von einer Pracht, die Menschen seit jeher in Scharen an seine Ufer lockt. Viele davon auf Dauer – vor allem Deutsche lassen sich zusehends am Plattensee nieder. Dabei spielt aber weniger die Schönheit der Landschaft eine Rolle. Wenn Anna Tillack in ihrer Doku hiesige Auswanderer trifft, ist der lokale Liebreiz nur ein Randaspekt. Die Hauptrolle spielt ganz klar: Angst. Bei Stephan Rebs zum Beispiel.

Wovor ihm und seiner Frau denn so graut, dass sie mit Kind und Kegel aus Bayern ostwärts gezogen sind, fragt die BR-Reporterin zu Beginn der “Weltspiegel-Dokumentation”. Deren Untertitel “Rechtes Paradies – Deutsche in Ungarn” deutet an, welche Antwort folgt. “Da sind wir jetzt bei der Immigration”, antwortet der Emigrant mit Blick auf die Asylpolitik seiner angeblich zwangsgendernd-woken Heimat und lobt Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban. Bei dem nämlich sei “erstmal Ungarn dran” – und “das ist auch richtig so”.

Zumindest für eine stetig wachsende Zahl von Rebs’ Landsleuten, die ihm ins “Traumland für Rechtskonservative” folgen, wie Anna Tillack Ungarn umschreibt. Und was sie mit ihrer Kollegin Judith Schacht hier zeichnet, ist das beunruhigende Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die nicht nur politisch, sondern längst auch räumlich auseinanderdriftet. Verdichtet auf 45 Minuten stellt die ARD dabei mehr Fragen, als Antworten zu geben – und macht gerade deshalb vieles richtig.

“In diesem Film will ich die Meinungen der Leute hören, ohne sie zu kommentieren”, sagt Anna Tillack gleich zu Beginn, und zwar auch solche “die mit meinem Weltbild nicht vereinbar sind”. In ihrer Presenter-Reportage kommen daher alle Beteiligten auf Augenhöhe zu Wort. Tillack ist nicht neutral, aber offen, bei aller Voreingenommenheit also sachlich statt emotional, ohne unterkühlt zu wirken – die Königsdisziplin journalistischer Ethik mit Aussagekraft.

Familie Rebs begegnet sie am Plattensee daher genau so wie einer diskriminierten Dragqueen in Budapest. Zwei hochgerüsteten Bürgerwehrmitgliedern, die nahe der serbischen Grenze Waffengewalt gegen Flüchtlinge fordern, lauscht sie ebenso aufmerksam wie dem Osteuropaexperten Ulf Brunnbauer, der Ungarn unter Orban als ungesünder, ungebildeter, unterversorgter, ergo ärmer beschreibt. Tillack ist – in einem Wort – interessiert. An allem. An allen. Und genau das macht gute Reportagen aus.

Eine Rückblende zeigt, wann und wo Ungarns Rechtsruck und Tillacks Wissbegier ihren Anfang nahmen: Ende 2015 stand sie schon einmal mit einem Mikrofon am Budapester Ostbahnhof und berichtete über Abertausende syrischer Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Deutschland dort gestrandet waren. Orban und seine endgültige Abkehr vom Liberalismus sind seitdem fester Bestandteil von Tillacks Berufsbiografie.

Wenn die zwei Grenzmilizionäre über Fremde aller Art fantasieren – “sie vergiften die Hunde, sie sind gewalttätig gegen Frauen, sie wollen uns das islamische Recht aufzwingen” – und Todesschüsse auf Fliehende fordern, weil weder “Gesetze noch nette Worte funktionieren”, sagt Tillack zwar auch mal “mich schaudert”. Ansonsten aber bleibt sie weiter ungerührt.

Sogar die offensichtliche Widersprüchlichkeit deutscher Immigranten, die ihre Emigration in ein fremdes Land, wo sie fortan selber Fremde sind, mit dem Übermaß an fremder Immigration zuhause rechtfertigen, lächelt die Reporterin souverän weg. Das macht “Rechtes Paradies – Deutsche in Ungarn” zur politischen Variante wirtschaftlich motivierter Auswanderung in Doku-Soaps wie “Goodbye Deutschland”. Es macht den Film aber auch zum Paradebeispiel einer soziokulturellen Reportage, die nicht mit erhobenem Zeigefinger anprangern, sondern mit offenen Armen aufzeigen will, und die gerade deshalb Denkräume öffnet.

Nur als sie den Neonazi Ignaz Bearth beleuchtet, der mithilfe scheinbar harmloser Stammtische für Exil-Deutsche ein rechtsextremes Netzwerk im ungarische Exil spannt, verliert Anna Tillack die Distanz. Ganz kurz nur – dann widmet sie sich wieder dem Make-up der Dragqueen Valery und ihrer Unverdrossenheit im Kampf gegen Vorurteile einer trans- und homophoben Nation. Ohne das Land dauernd an den liberalen Pranger zu stellen. Das ist auch nicht nötig. Vieles diskreditiert sich von ganz von alleine. Anna Tillack und Judith Schacht müssen dafür nur Kamera und Mikro hinhalten.