Artikel teilen:

ARD-Korrespondentin Ina Ruck über ihre Arbeit in Moskau

Seit fast 20 Jahren berichtet Ina Ruck – mit Unterbrechungen – als ARD-Korrespondentin aus Russland. Am Donnerstag erhält die aus dem westfälischen Unna stammende Leiterin des ARD-Studios in Moskau zusammen mit Elmar Theveßen, Leiter des ZDF-Studios in Washington, den renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erzählt die WDR-Journalistin, was an Berichterstattung aus Moskau überhaupt möglich ist.

KNA: Frau Ruck, Sie sind kürzlich aus dem Urlaub nach Moskau zurückgekehrt. Wie kommt man da angesichts der Sanktionen überhaupt noch hin?

Ruck: Das ist ein großes Problem. Mein Mann und meine Familie leben in Deutschland. Und wenn ich dorthin will, bin ich immer zwölf bis 24 Stunden unterwegs. Entweder mit dem Zug bis Sankt Petersburg, dann mit dem Taxi weiter über die Grenze nach Finnland und dann mit dem Flugzeug nach Hause. Oder mit dem Flieger von Moskau nach Istanbul und dann Richtung Deutschland. Das ist wirklich sehr umständlich.

KNA: Man wundert sich ja, dass es überhaupt noch einigermaßen freie Berichterstattung aus Russland gibt. Wie fühlt man sich als Korrespondentin in Moskau?

Ruck: Wir sind noch da und arbeiten weiter in unserem Studio, das wohl eines der größten der westlichen Medien in Moskau ist, mit direktem Blick auf das Weiße Haus, dem Sitz der russischen Regierung. Wir können uns frei bewegen, durchs ganze Land reisen. Aber natürlich ist uns bewusst, dass alle unsere Wege über Handyortung und Kameras nachverfolgt werden können. Spätestens seit Corona wissen wir, dass ganz Moskau durch Kameras überwacht wird. Bis in die Hausflure hinein.

KNA: Da wird es schwierig, unbemerkt Informanten zu treffen…

Ruck: Das Schwierigste ist die permanente Sorge, dass wir unsere Gesprächspartner gefährden könnten. Manche muss man sogar vor sich selber schützen, aber insgesamt ist die Bereitschaft, mit uns zu reden, stark zurückgegangen. Die Menschen sind vorsichtiger und misstrauischer geworden. Man wird mittlerweile sogar immer häufiger angefeindet, wenn man als Angehöriger eines westlichen Landes identifiziert wird. Weniger im vergleichsweise weltoffenen Moskau, aber immer mehr in der Provinz.

KNA: Sie kämpfen also mit stark erschwerten Bedingungen…

Ruck: Früher war Russland ein Paradies für Journalisten. Fast jeder war bereit, sich zu äußern. Man wurde schnell in die Häuser und die Küchen der Russen eingeladen. Das hat sich dramatisch geändert. Manche Leute wollen nicht mehr mit Journalisten aus den sogenannten unfreundlichen Ländern reden, andere fürchten um ihre berufliche Karriere, wenn sie Kontakt zu uns halten. Und wieder andere haben schlicht Angst, dass sie verhaftet oder bestraft werden können.

KNA: Müssen Sie selber Angst vor Strafverfolgung oder Ausweisung haben?

Ruck: Seit Beginn des Krieges gab es mit Blick auf die Medienberichterstattung eine Gesetzesverschärfung nach der anderen. Am unberechenbarsten ist wohl das Gesetz gegen die Diskriminierung der Streitkräfte, ein Zensurgesetz, das es unter Strafe stellt, vermeintliche Fake News über das russische Militär zu verbreiten. Das ist so schwammig formuliert, dass man jederzeit belangt werden kann. Man weiß nie, wann die Rote Linie überschritten ist.

KNA: Gerade erst hat ein russisches Gericht die Untersuchungshaft des US-Journalisten Evan Gershkovich um drei Monate bis Ende November verlängert….

Ruck: Gershkovich wird der Spionage beschuldigt, was hohe Strafen nach sich ziehen könnte. Es ist ein Skandal, was mit ihm passiert. Ich glaube, dass die Russen da ein für alle westlichen Medien sichtbares Signal setzen wollten: Befasse Dich nicht mit bestimmten Themen. Wir als ARD haben gleich nach Kriegsbeginn wie viele andere westliche Medien entschieden, dass wir die eigentliche Berichterstattung über den Krieg – wir nennen den Krieg auch Krieg – und den engeren Bereich des Militärischen auslagern: nach Kiew und in die Zentrale nach Köln. Wir schaffen es damit, dass wir weiter frei über diese Themen berichten und gleichzeitig in Russland präsent sein können.

KNA: Es könnte Ihnen ja auch noch die Akkreditierung entzogen werden…

Ruck: Früher galt die Presse-Akkreditierung, die man hier braucht, um als Journalistin zu arbeiten, für ein Jahr. Inzwischen ist sie nur noch für drei Monate gültig. Besonders scharf kontrolliert werden natürlich die russischen Medien und diejenigen ausländischen Medien, die auf Russisch berichten. Die Deutsche Welle beispielsweise wurde absurderweise als “ausländischer Agent” bezeichnet; ihre Korrespondentenbüros wurden schon kurz nach Kriegsbeginn geschlossen, die Akkreditierungen eingezogen. Die Zahl westlicher Journalisten hier ist deutlich zurückgegangen.

KNA: Ständig schwebt so ein Damokles-Schwert über Ihnen?

Ruck: Ich sehe das besorgt und nüchtern: Wir sind auf alles vorbereitet, berichten weiter kritisch, und wenn die Behörden aus welchem Grund auch immer beschließen, dass wir nicht mehr genehm sind, dann müssen wir gehen. Grundsätzlich glaube ich aber, dass es im Interesse der russischen Regierung ist, wenn westliche Medien im Land sind. Wir westliche Journalisten wären wohl alle nicht mehr hier, wenn wir permanent in der Angst leben müssten, morgen im Gefängnis oder im Straflager zu landen.

KNA: Über den Krieg direkt berichten Sie nicht. Aber was sind Ihre Themen?

Ruck: Es ist weiterhin wichtig, hier vor Ort zu sein. Wir berichten natürlich, was der Krieg für dieses Land bedeutet. Wir versuchen, der russischen Gesellschaft den Puls zu fühlen. Wir informieren über Gerichtsprozesse gegen Oppositionelle, machen Beiträge darüber, dass Medien jetzt russische Superhelden für Kino, Comics und Bücher erfinden, weil westliche Helden wie Batman als unrussisch definiert werden, und berichten über neue Schulbücher, in denen die Bundesrepublik beschuldigt wird, die DDR annektiert zu haben.

KNA: Ist die russische Zivilgesellschaft noch Thema? Gibt es noch eine Umweltbewegung oder eine Debatte über Verkehrsprobleme?

Ruck: Diese Themen stehen ja derzeit alle im Schatten des Krieges. Wer sich zu politischen Themen äußert, wird schnell der Sabotage oder der Schwächung Russlands beschuldigt. Das ist heikel. Es gibt noch eine Zivilgesellschaft, aber sie ist klein. Viele ihrer aktivsten Mitglieder sind entweder im Gefängnis oder im Exil. Manche Menschen möchten sich trotzdem weiter engagieren. Die suchen dann vermeintlich unverfängliche Themen wie den Tierschutz.

KNA: Es wird immer wieder berichtet, dass die meisten Russen hinter dem Krieg und Putin stehen. Sehen Sie das auch so? Und wie ist das zu erklären?

Ruck: Es sieht so aus, als ob eine Mehrheit weiter dahinter steht. Ganz interessant fand ich kürzlich eine Umfrage, nach der sich 60 Prozent der Russinnen und Russen für Verhandlungen aussprechen. Fragt man nach der Rückgabe der Krim oder der von Russland annektierten Gebiete im Osten der Ukraine, schließt eine Mehrheit das jedoch aus. Dennoch könnte es sein, dass sich da vielleicht eine Tür einen Spalt weit geöffnet hat.

KNA: Wirtschaftliche Einbußen oder tote Soldaten spielen keine Rolle?

Ruck: Man muss da zwischen Moskau und der Provinz unterscheiden: Hier in Moskau ist das Protestpotenzial theoretisch am größten. Wohl deshalb ist hier die Versorgung nicht schlechter geworden. Wohl deshalb werden von hier auch sehr wenige Männer in den Krieg geschickt. Bei meinen Reisen durch das Land gehe ich immer wieder bewusst auf Friedhöfe. Und da sieht man: Dieses Land ist im Krieg. Da gibt es frische Gräber.

KNA: Aber auch da hört man wenig Protest…

Ruck: Das liegt auch daran, dass dieser Krieg durchaus gut ist für viele Leute – so zynisch das klingt. Die Soldaten erhalten vergleichsweise viel Geld, das sie nach Hause schicken können. Und wenn sie im Kampf sterben, werden die Familien geehrt – vielleicht sogar mit einer Urkunde des Präsidenten oder Verteidigungsministers – und finanziell bedacht. Die getöteten Soldaten werden zu Helden stilisiert; sie sind ja für die “richtige” Sache gestorben. Die Familien steigen im Ansehen. Und oft sieht man in den Dörfern, dass der Wohlstand gestiegen ist, und dass da Geld für ein neues Auto oder ein renoviertes Haus geflossen ist.

KNA: Merken Sie im privaten Kreis, dass der Krieg das Land verändert?

Ruck: Man wird ein wenig einsamer. Der Freundeskreis wird kleiner. Eine sehr gute Freundin ist gleich nach Kriegsbeginn aus Russland ausgereist. Eine andere habe ich an die Propaganda verloren: Sie steht hinter dem Krieg, findet, die Ukraine dürfe nicht eigenständig sein. Wir können nicht mehr unbefangen miteinander reden. Ein anderer Freund hat sich zurückgezogen, weil er unsere Freundschaft wegen unterschiedlicher politischer Antworten nicht gefährden will. Man merkt sehr schnell, dass durch manche russische Familien ein Riss geht.

KNA: Geht dieser Riss auch durch die russisch-orthodoxe Kirche?

Ruck: Offiziell steht die Kirche wie ein Mann hinter Putin. Patriarch Kyrill hat ja im September bei der Mobilmachung erklärt, wer in diesem Krieg sterbe, komme quasi direkt ins Paradies. Ich habe allerdings auch schon orthodoxe Priester erlebt, die unter riesigem Druck stehen und in den Gottesdiensten ganz vorsichtig Distanz andeuten. Sie beten dann nicht direkt für Putin, sondern dafür, dass Gott ihm Weisheit schenken möge. Viel mehr Kritik geht da nicht.