Woher kommt die weit verbreitete Vorstellung von blondgelockten Engeln mit Flügeln?
Anselm Grün: Das war wohl die Kunst. Die Bibel spricht von himmlischen Heerscharen, die die Geburt Christi verkünden. Die haben die Künstler im Barock als Kinderengel dargestellt, die musizieren. Die Kinderengel fordern uns dazu auf, das Leben leichter zu nehmen.
Welche Bedeutung haben Engel in der Bibel?
Gott sieht die Not und schickt einen Boten. Im Alten Testament sind Engel stark. Der Engel, der sich Bileam in den Weg stellt, hat ein Schwert in der Hand. Gideon erschrickt vor dem Engel. Sie sind keine niedlichen Engel, sondern kraftvoll. Aber durchaus wohltätig – wie etwa Raphael, der Hagar in der Wüste erscheint. Entscheidend ist ihre Botschaft. Sie wenden die Not, heilen Beziehungen – so wie bei Hagar. Die Hilfe Gottes wird konkret durch Engel vermittelt so wie bei Elia. Dem lebensmüden Propheten erschien ein Engel, richtete ihn wieder auf und gab ihm neuen Lebensmut.
Gibt es heute auch echte Engelserfahrungen?
Theologisch gesehen sind Engel geistige, geschaffene Wesen. Alles, was erfahrbar ist, kann uns zu Engeln werden. Das kann ein Impuls sein, eine innere Einsicht, ein Buch, ein Mensch. Manche Menschen berichten, dass sie etwa beim Autofahren in einer kritischen Situation erlebt haben, dass sie ein Engel bewahrt hat. Ein Engel ist das Wirken Gottes. Aber er ist keine Person, sondern eine Macht, die mein Dasein schützt.
Wie meinen Sie das?
Ich kann ein Beispiel erzählen. Es ging darum, dass Gott und sein Engel bei uns ist. Ein zehnjähriges Mädchen kam auf mich zu und fragte: „Glauben Sie wirklich, dass der Engel mich nicht verlässt?“ Ich sagte: „Der bleibt bei dir.“ Sie: „Auch wenn ich böse bin?“ Ich: „Ja, der hält dich aus.“ Sie: „Auch wenn ich immer wieder böse bin?“ Ich: „Ja, der hält dich immer aus.“ Dann ist das Mädchen getrost nach Hause gegangen und ich habe überlegt, warum war das so wichtig? Offensichtlich hat das Mädchen andere Botschaften gehört wie: „Du bist unmöglich.“ Oder: „Mit dir kann es keiner aushalten.“ Vielleicht hat sie sich selbst nicht ausgehalten. Gott ist für das Mädchen vielleicht zu abstrakt. Aber mit dem Bild eines Engels kann sie etwas anfangen. Ein Engel, der sie begleitet und aushält, wenn sie sich selbst nicht aushalten kann oder andere es mit ihr nicht aushalten. Das hilft ihr. Das meint personale Macht. Es schützt ihr Person-sein.

Viele Menschen scheinen eine Sehnsucht nach Engeln zu haben. Woher kommt das?
Es ist vermutlich eine Sehnsucht nach dem Göttlichen. Und auch eine Sehnsucht nach Schutz und behütet sein. Gott ist für manche zu weit weg. Für uns Christinnen und Christen ist es wichtig zu sehen, dass Engel eben Boten Gottes sind. In der Esoterik werden die Engel direkt angerufen. Für uns ist es Gott, der uns einen Engel schickt. Aber Gott lässt sich nicht verfügen – und auch seine Boten nicht.
Das heißt, unser christlicher Glaube könnte diese Sehnsucht erfüllen?
Ich glaube, Gott kann diese Sehnsüchte erfüllen. Aber der Glaube an Gott braucht auch Menschlichkeit und eine Erfahrbarkeit. Vielleicht haben wir oft zu abstrakt von Gott gesprochen. Die Bibel hat kein Problem damit, von Gott zu sprechen – dass er direkt spricht oder auch durch Engel. In den ersten Jahrhunderten nach Christus waren die Menschen überzeugt, dass sich Gott in Engeln zeigt. Der Psychologe C.G. Jung sagt, wir müssen der Weisheit der Seele trauen. Und die Weisheit der Seele weiß, dass es Gott gibt. Und wenn wir uns mit rationalen Argumenten von der Seele trennen, werden wir ruhe- und rastlos.
Wie können wir Christinnen und Christen unseren Glauben weitergeben, dass er Menschen erreicht?
Es ist die Kunst, eine Sprache zu finden, die die Menschen verstehen können, die sie berührt. Ich glaube, jeder Mensch hat eine Sehnsucht nach Gott. Diese Sehnsucht braucht Bilder. Engel sind Bilder für die Nähe Gottes. Über seine Wirklichkeit können wir nur in Bildern sprechen. Manchmal sind theologische Abhandlungen so abstrakt, dass die Menschen sie nicht verstehen. Dass sie keine Antwort auf die Fragen ihres Lebens finden.
Wie kann es gelingen, Antworten zu finden?
Es geht auch um die Frage, wie der Glaube in die Erfahrung gebracht werden kann. Der Glaube sollte so zur Sprache gebracht werden, dass menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte angesprochen werden. Für den Glauben ist es ein wichtiger Weg, Stille auszuhalten und zur Ruhe zu kommen. Jesus sagt, die Wahrheit wird euch frei machen. Wenn ich die Wahrheit zulasse und weiß, dass ich mit all dem Chaos in mir von Gott angenommen bin, dann komme ich zur Ruhe. Viele Menschen fürchten sich davor, zur Ruhe zu kommen und gleichzeitig sehnen sie sich danach.

Wie kann man Menschen dazu ermutigen?
Es geht darum, selbst Zeugnis zu sein – nicht plakativ. Nicht aggressiv zu missionieren und zu sagen „du musst glauben“. Aber dass ich zum Beispiel vor dem Essen stillhalte und bete. Auch in einem Gasthaus. Und es geht darum, wie wir auf die Welt reagieren. Viele jammern und fühlen sich ohnmächtig. Aber wir Christinnen und Christen haben die Hoffnung, dass die Mächtigen nicht das letzte Wort haben, sondern dass das Gott hat. Es gibt Hoffnung auch in dieser konkreten Zeit. Wir sehen die Realität wie sie ist und trotzdem hoffen und beten wir. Solange ich bete, habe ich Hoffnung.
Beten macht Hoffnung?
Viele sagen, beten nützt nichts. Aber es verwandelt zumindest mich. Und wenn ich Hoffnung in die Gesellschaft gebe, prägt das auch mein Umfeld. Da geht etwas von mir aus. Es gibt oft den Einwand, dass Gott nichts macht. Da frage ich dann, welches Gottesbild dahintersteckt. Gott ist nicht für alles verantwortlich. Aber er verwandelt mich und dann kann ich anders handeln in der Welt. Wenn ich bete und die Probleme Gott hinhalte, dann bleibe ich nicht in Ohnmacht und im Jammern stecken. Ich vertraue darauf, dass wir in dieser Situation trotzdem getragen sind.