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Am Heiligabend, wenn das ganze Dorf blökt

Wenn Herbert Brauer im Krippenspiel Regie führt, dann ist die ganze Gemeinde aktiv mit dabei. Uli Schulte Döinghaus schreibt über ihn.

Wenn Herbert Brauer im Krippenspiel Regie führt, dann ist die ganze Gemeinde aktiv mit dabei.Von Uli Schulte Döinghaus

Wenn am Heiligen Abend Isabell Pawletta als Leiterin des Gottesdienstes in Großwoltersdorf ihre Schäflein um sich schart, dann kann man dies auch wortwörtlich verstehen. Beim Krippenspiel ab 16.30 Uhr in der wahrscheinlich überfüllten Kirche werden nämlich alle mitspielen müssen. Und zwar als Schafe – wann immer eine große Schrifttafel mit den Worten „Määäh“ in die Höhe gereckt wird, soll die ganze Gemeinde blöken. Die Geschichte fing damit an, dass die kleinsten Anfängerinnen und Anfänger sich dagegen wehrten, im Krippenspiel immer nur die Schafe zu spielen. Regisseur Herbert Brauer (65) nahm diesen Zwergenaufstand zum Anlass, statt der Jüngsten, die nun Text sprechen dürfen, die ganze Gemeinde ins Krippenspiel zu integrieren. Und zwar immer dann, wenn eine Regieanweisung auf Pappe sie dazu auffordert.Ideenlieferant und Spielleiter Herbert Brauer ist einer der umtriebigsten Bewohner des 389-Einwohner-Dorfes mit dem etwas angeberischen Namen Großwoltersdorf. Unter den Dorfbewohner*innen fällt Herbert Brauer schon deswegen auf, weil er eine rote Latzhose und einen lustigen Hirtenhut trägt. Zusammen mit seiner schmalen Zahnlücke bilden sie seine Markenzeichen, die ein wenig dem legendären ZDF-Kindermoderator Peter Lustig abgeguckt sind. Auch Herbert Brauer zeichnet Optimismus aus, gepaart mit dem Talent, auf vielerlei Weise musizieren zu können, stets eine Geschichte parat zu haben, bekannt wie ein bunter Hund, nie um eine gute Idee verlegen, aber immer sehr zielstrebig zu sein. Brauer lebt mit seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen zwölfjährigen Tochter seit etwa 13 Jahren in Großwoltersdorf. Besonders für die Kirchengemeinde des Ortes, die zum Pfarramt Menz im Landkreis Oberhavel gehört, aber auch für die benachbarten Gemeinden, ist er zu einer Art Kulturbeauftragter geworden, zum Möglichmacher. Das hat mit dem Krippenspiel am Heiligen Abend zu tun, das in Großwoltersdorf Tradition hat und von Herbert Brauer seit zwei Jahren auf Bitten der Pfarrerin Beate Wolf geleitet wird. Stets sind viele Dorfkinder dabei, Mütter helfen, Väter packen an, Großeltern kümmern sich. Auch wenn die wöchentlichen Proben zum Krippenspiel schon lange vor Weihnachten beginnen, so ist die Teilnahme am örtlichen Schauspiel sehr begehrt. So gut wie alle Kinder, ob sie aus christlichem Elternhaus kommen oder nicht, reißen sich darum, am Heiligen Abend vor Eltern, Verwandten und Freunden auftreten zu dürfen. Der Zuspruch ist groß, Nachwuchssorgen sind unbekannt. Das hat auch mit dem demografischen Trend zu tun, dass immer mehr junge Familien auf den Grundstücken ihrer Vorfahren neu bauen und für neues Leben im kleinen Großwoltersdorf sorgen.In diesem Jahr haben sich Gemeindepfarrerin Beate Wolf und Herbert Brauer für ein Spiel entschieden, das etwas aus dem Rahmen fällt. Nicht Christkind, Josef und Maria stehen im Mittelpunkt des Spiels, sondern ein kleiner Hirtenjunge, der sich aufmacht, dem Stern zu folgen und den Weg mit Hilfe von vielen Engeln zu finden. Die Schafe, die dem Hirtenjungen anvertraut sind, das sind –„Määäh!“ -, die Dorfbewohner*innen und Gottesdienstbesucher*innen. Für den dörflichen Zusammenhalt ist die Angebotspalette der winzigen Kirchengemeinde wichtig. Zwar gibt es nur einmal im Monat einen Gottesdienst, dazwischen sorgen aber die Damen vom Gemeindekirchenrat für diese Kaffeetafel und jene Zusammenkunft. Man trifft sich gerne im Schatten der Dorfkirche, selbst wenn es keinen kirchlichen Hintergrund in der eigenen Familie gibt. Herbert Brauer fand erst zu Ostern dieses Jahres zu seiner evangelischen Kirchenmitgliedschaft. Es sei ein langer, aber logischer Weg gewesen, „bis ich zu meinem Glauben und zur Kirche gefunden habe“, sagt er.Vor fast 30 Jahren war der frühere Jugendfunktionär der Freien Deutschen Jugend (FDJ) so etwas wie der Liquidator der FDJ im DDR-Bezirk Potsdam, löste diesen auf. Während des damaligen Runden Tisches der Jugend schätzte er die Kooperation mit den Jugendseelsorgern.Bis zu seiner Verrentung im vergangenen Jahr arbeitete Herbert Brauer als Erzieher in einem Kindergarten in Menz. Einmal wöchentlich zog er mit seiner Kindergartengruppe durchs Dorf, um zu singen. „Tante Herbert“ nannte ihn jeder, wenn er mit dem Krippenwagen, bepackt mit kleinen Kindern, durch den Ort rumpelte. Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) porträtierte ihn 2013 als „ältesten Kindergärtner Deutschlands“.Der Ruf, ein versierter und zugleich bunter Vogel zu sein, eilt Herbert Brauer voraus. Zum Beispiel als Gründer und Geschäftsführer des regionalen Vereins „Gemeinsam – Plattform für Soziokultur- und Freizeitpädagogik“. Oder als Musikant bei den „Spielleuten Erdenmut“, die sich den Traditionen umherziehender Musikanten, Sänger und Geschichtenerzähler verbunden fühlen. Oder nehmen wir den Neulögower Weihnachtschor, eine 19-köpfige Gesangsgruppe, die Herbert Brauer leitet. Der ehrgeizige Chor mit Sängern aus der ganzen Region tritt nur wenige Male im Jahr auf, manchmal auch in Asylbewerberunterkünften oder vor Seniorengruppen. Am Heiligabend um 15 Uhr tritt der Weihnachtschor in der Dorfkirche zu Neulögow auf. Der Weihnachtschor intoniert dann „altdeutsche“ Weihnachtslieder, etwa „In dulci jubilo“. Danach stimmen alle, begleitet vom Gitarristen Herbert Brauer, klassische Weihnachtslieder an – das Blöken aber bleibt dem Publikum beim Krippenspiel in Großwoltersdorf vorbehalten.