Hier sieht Venedig etwas anders aus als am Canal Grande oder am Markusplatz. Die Fassaden strahlen nicht um die Wette, der Putz bröckelt. Andererseits stehen hier die höchsten Häuser der Lagunenstadt. Aber trotz der Touristen, die natürlich auch in diesen versteckten Winkel finden, scheinen hier die Uhren etwas langsamer zu ticken. Liegt es an der einst so besonderen Bedeutung dieses Ortes, an dem man eher nachdenklich als staunend innehält?
Auf einer Insel im Stadtbezirk Cannaregio
Es war vor 500 Jahren, als sich das Leben der jüdischen Bevölkerung von Venedig von einem auf den anderen Tag änderte – keineswegs nur zum Schlechteren. 1516 erließ der Doge Leonardo Loredan ein Dekret, demzufolge die Juden, die schon seit Jahrhunderten über die Stadt verteilt lebten, in einem Viertel konzentriert werden sollten. Ziel war nicht nur die Ausgrenzung und Kontrolle der Bewohner, sondern auch deren Schutz. Übergriffe von Christen gegen Juden standen zwar unter Strafe, waren aber immer wieder vorgekommen. Zwangsbekehrungen aber, die an vielen Orten an der Tagesordnung waren, gab es in Venedig nicht.
Nun zogen die venezianischen Juden, 700 sollen es gewesen sein, ins Ghetto. Schon seit Jahrhunderten war das verhältnismäßig tolerante und pragmatische Venedig Zufluchtsort für Juden – zuletzt für die aus Spanien vertriebenen. Der Name ihres neuen Quartiers, der später so traurige Berühmtheit erhalten sollte, leitet sich vom italienischen ‚getto‘ ab, dem Wort für Guss beziehungsweise Gießen. Dort gab es mehrere Gießereien, in denen die Bewohner, die nun umgesiedelt wurden, Arbeit gefunden hatten.
Das älteste Ghetto der Welt ist 500 Jahre später ein Ort, an dem sich eine andere Geschichte artikuliert als an den übrigen Stellen Venedigs. Wer heute zu der kleinen Insel im Bezirk Cannaregio spaziert, muss schon mit speziellem Spürsinn ausgestattet sein, um die Spuren dieses einst abgeriegelten Stadtteils zu finden. Von den Brückentoren, mit denen das Ghetto nach Mitternacht abgesperrt wurde, sind nur noch Verankerungen im Mauerwerk zurückgeblieben. Dort hatten christliche Wächter ihren 24-Stunden-Dienst verrichtet. Den Lohn mussten die neuen Bewohner entrichten. Und die Fenster, von denen aus man auf Boote hätte flüchten können, sind längst nicht mehr zugemauert.
Jüdisches Leben ist dagegen noch gegenwärtig – auch wenn nur noch ein paar Dutzend Juden im ehemaligen Ghetto leben. Es gibt eine Bäckerei und ein Restaurant, beides koscher, eine Bücherei, das jüdische Altenheim sowie das Museo Ebraico. Die fünf Synagogen verstecken sich aber hinter schlichten Fassaden. Die älteste ist die Scola Tedesca, was darauf verweist, dass die ersten Juden, die sich in Venedig niedergelassen hatten, aus deutschen Gebieten kamen. Die größte Synagoge ist die Scola Spagnola, deren barocke Innenausstattung auf den venezianischen Baumeister Baldassare Longhena zurückgeht, der die Kirche Santa Maria della Salute und Paläste am Canal Grande geschaffen hat. Diese Zusammenarbeit mag verwundern, war jedoch nichts Ungewöhnliches. Der Kontakt zu den Christen war zwar untersagt, nicht verboten war aber, was dem Geschäft nutzte.
Gelbe Hüte, wenig Rechte, horrende Abgaben
An einer Fassade erkennt der aufmerksame Besucher den verblassten Schriftzug „Banco rosso“, ein Indiz dafür, dass es im Ghetto auch Banken gab. Juden durften Kredite an Arme geben. Christen war dies verboten. Aber auch die Mächtigen gehörten zur Kundschaft der Geldverleiher – nicht zuletzt um ihre Kriege zu finanzieren. Auf die Handelsbeziehungen der Ausgegrenzten mochten die Venezianer ebenso wenig verzichten wie auf deren Kenntnisse, die sie etwa als Ärzte oder als Buchdrucker unter Beweis stellten. Die Ghetto-Bewohner, die sich durch das Tragen gelber Hüte zu erkennen geben mussten, hatten zwar nur wenige Rechte und wurden mit horrenden Abgaben belegt, aber es war ihnen erlaubt, ihren Glauben auszuüben und Schulen zu gründen.
Der Weg ins ehemalige Judenviertel führt von den Fondamenta di Cannaregio durch einen wenig beschaulichen Durchgang, früher war hier eines der Tore zum Ghetto, in die Calle di Ghetto Vecchio. An deren Ende empfängt der stille, mit Bäumen bestandene Campo del Ghetto Nuovo mit seinen sieben- bis achtstöckigen Häusern, Venedigs Wolkenkratzern. Die vorhandenen Bauten wurden von den Bewohnern mit einfachsten Mitteln erweitert. Es waren – vor allem im 17. Jahrhundert – immer mehr Flüchtlinge ins Ghetto gezogen. Zeitweilig lebten mehr als 5000 Juden auf engstem Raum – trotz zweier Erweiterungen in nahe gelegene Gassen.
Das vorläufige Ende kam mit dem Untergang der Republik im Jahr 1797, als die siegreichen Soldaten Napoleons die Tore des Ghettos niederrissen. 1866 wurden die Juden im neuen Königreich Italien sogar rechtlich gleichgestellt. Aber der Lauf der Geschichte sollte noch weitere Kapitel schreiben. An einer Hauswand am Campo erinnert eine Arbeit des litauischen Künstlers Arbit Blatas an den Holocaust. Über den Kupferreliefs, die Deportation, Erschießungen und Massengräber zeigen, ist Stacheldraht angebracht.
Heutige Assoziationen, die der Begriff Ghetto seit der Nazi-Diktatur auslöst, treffen in ihrer Grausamkeit nicht auf die Geschichte dieses Urtyps von Ausgrenzung und Unterdrückung zu. Die Zustände in einem Ghetto wie dem von Warschau waren weitaus schlimmer. Das Leben dort war meist die letzte Etappe vor der Ermordung – so wie in Venedig, nachdem es von deutschen Truppen erobert worden war. Von den 1943 und 1944 Deportierten kehrten nur wenige in die Lagunenstadt zurück. Der Tod war eben ein Meister aus Deutschland.
Der Posten der Carabinieri, die auf dem Campo del Ghetto ständige Präsenz zeigen, verbindet das Gestern mit dem Heute auf bedrückende Weise.