Es ist ein kalter Wintermorgen im Januar 1945, als die Familie Walczak aus Schlesien aufbricht. Wenige Monate später kapituliert Nazi-Deutschland, der Krieg ist vorbei – doch für Millionen Deutsche beginnt schon jetzt die Zeit von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust. Die sowjetische Armee rückt näher; Geschichten von Gewalt durch Soldaten machen die Runde. Die Angst ist allgegenwärtig.
Mit wenigen Habseligkeiten, zwei Kindern und der Großmutter macht sich die Familie auf den Weg nach Westen – ins Ungewisse. Wochenlang erleben sie Hunger, Kälte, Ablehnung. Nach Stationen in Auffanglagern landen sie im Ruhrgebiet bei Verwandten. Die Männer finden Arbeit auf der Zeche, doch die erste Zeit ist hart: Die Neuankömmlinge werden misstrauisch beäugt, der Name Walczak klingt fremd. Um nicht aufzufallen, nennen sie sich „Waldert“. Ein neuer Name, ein neues Leben – aber die alte Heimat bleibt im Herzen.
Gedenktag der Opfer von Flucht und Vertreibung
Am 20. Juni gedenkt Deutschland der Opfer von Flucht und Vertreibung. Der Tag erinnert an das Schicksal von 12 bis 14 Millionen Menschen, deren Leben nach dem Zweiten Weltkrieg durch Heimatverlust und Neuanfang geprägt wurde. Sie kamen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, dem Sudetenland, aus Ungarn, Rumänien und anderen Teilen Mittel- und Osteuropas – vertrieben aus ihren Heimatregionen und gezwungen, in einem fremden Land neu zu beginnen.
In Westdeutschland, der späteren Bundesrepublik, kamen rund acht Millionen Vertriebene an. In Ostdeutschland, der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR, wurden etwa 4,1 Millionen Menschen aufgenommen. Viele fanden eine Bleibe in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Bayern, Hessen oder im Ruhrgebiet. Besonders dort prägten sie das gesellschaftliche Leben, oft unter schwierigen Bedingungen. Doch der 20. Juni ist mehr als ein Blick zurück – er lädt ein, über Zugehörigkeit, Integration und Verantwortung nachzudenken.
Der Neuanfang der Vertriebenen verlief alles andere als reibungslos. Die Vertriebenen galten als „Fremde“. Viele suchten Halt in eigenen Verbänden, Landsmannschaften und Kirchengemeinden. Sie pflegten Bräuche, Dialekte und das Gedenken an die verlorene Heimat. Doch der Druck, sich anzupassen, war groß. Erst die zweite Generation wurde richtig heimisch.
Thema Rückkehr führte jahrzehntelang zu Kritik
Über Jahrzehnte hinweg war das Thema Rückkehr in die alte Heimat und die Frage nach den deutschen Ostgebieten ein zentrales Anliegen der Vertriebenenverbände. Dies führte immer wieder zu Kritik: Man warf ihnen Revanchismus vor, politische Einflussnahme und eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Erst mit der Ostpolitik der 1970er Jahre wandelte sich das Selbstverständnis der Verbände. Heute stehen Erinnerungskultur, Versöhnung und Minderheitenschutz im Vordergrund.
Die Geschichte der Vertriebenen ist längst Teil des deutschen Selbstverständnisses. Sie haben maßgeblich zum Wiederaufbau beigetragen. Doch der Weg dorthin war steinig. Die seelischen Narben, das Weinen und Klagen über den Verlust der Heimat und das Ringen um Anerkennung begleiteten viele ein Leben lang. Man mag sich an Psalm 137 erinnert fühlen: „An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.“
Gerade die Kirchen boten praktische Hilfe
Seelsorge, Unterbringung, materielle Soforthilfe, Schaffen von Gemeinschaft – und wurden für viele Vertriebene zur geistlichen Heimat. Sie halfen, Traumata zu verarbeiten und Brücken zwischen „Alteingesessenen“ und „Neuankömmlingen“ zu bauen. Heute erleben wir erneut, wie Menschen aus aller Welt zu uns kommen – auf der Suche nach Schutz und einer neuen Zukunft. Auch ihnen schlagen an vielen Stellen Misstrauen und Ablehnung entgegen. Die Geschichte zeigt: Integration ist möglich, aber sie braucht Zeit, Geduld – und Bereitschaft, von beiden Seiten.
Die evangelische Kirche sieht damals wie heute im Schutz von Geflüchteten einen biblischen Auftrag. „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“, sagt Jesus. Für Christinnen und Christen ist das gelebte Nächstenliebe. Die Geschichte von Vertriebenen wie der Familie Walczak, die sich später Waldert nannte, mahnt, aufmerksam und mitfühlend zu sein für die Geschichten und Hoffnungen derer, die zu uns kommen und Schutz suchen. Heimat ist nicht nur ein Ort. Sondern ein Miteinander. Wer sich öffnet und Brücken baut, schenkt nicht nur anderen eine neue Heimat – sondern findet sie auch selbst. So wie es viele nach 1945 selbst erfahren haben oder sich zumindest gewünscht hätten.