„… dann steht das Christkind vor der Tür“ – viele kirchenverbundene Menschen sehen in der Adventszeit lediglich eine Vorbereitung auf das Christfest. Doch bis heute gelten die Adventswochen in der Kirche als Bußzeit und haben ihre eigene Botschaft. Die Lesungen an den Sonntagen und die alten Kirchenlieder machen das deutlich. Sie handeln – beispielsweise am 2. Sonntag im Advent – vom Ende der Welt und der Wiederkunft Christi zum Gericht. Es ist ein Leben zwischen dem ersten und dem letzten Advent des Heiligen.
Im letzten Buch der Bibel – der Apokalypse – wird das Geschehen am Ende der Tage in Visionen geschildert. Diese Offenbarung hat seitdem auf unzählige Menschen gewaltigen Eindruck gemacht und ihre Vorstellungen von der Zukunft geprägt. Die Angst vor dem Gericht verdunkelte im Mittelalter geradezu den Glauben. Die Kirche tat manches, um sie zu schüren. Auch der junge Martin Luther sah in Christus nur den strengen Weltenrichter und ist darüber schier verzweifelt. Dass Christus ganz anders begegnen will, war seine große Erkenntnis im Römerbrief. Luther kannte freilich auch die Sätze aus dem 2. Brief an die Korinther: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit ein jeder den Lohn für sein leibliches Leben empfange, je nachdem er gehandelt hat, es sei gut oder böse.“
Der Reformator erklärte den scheinbaren Widerspruch in einer Predigt so: „Es ist nicht ein anderer, der den jüngsten Tag wird halten, als eben der, der sich selbst für uns gegeben hat.“ Der Gedanke an das Gericht soll die Gläubigen nicht mit Schrecken erfüllen. Wohl aber erinnert er sie an ihre Christenpflichten, die sie mit „Lust und Liebe“ tun dürfen. Gegen Ende seines Lebens sehnte der Reformator den „jüngsten Tag“ geradezu herbei.
Der Eindruck der Konfessionskriege könnte bewirkt haben, dass die Nachgeborenen einen matteren Glauben pflegten. Er sollte sich mit der menschlichen Vernunft verbinden und eine moralisch wertvolle Lebensführung möglich machen. Das Weltgericht wurde jetzt nicht mehr als göttliches Eingreifen verstanden. Es lag in der Hand des Menschen selbst. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, stellte Friedrich Schiller in dem Gedicht „Resignation“ fest.
Gott hat resigniert, sich zurückgezogen. Die Menschheit schafft und beurteilt ihre Katastrophen selbst. Das ist ein bis heute moderner Gedanke. „Apocalypse now“ heißt ein berühmter amerikanischer Film über den Vietnamkrieg. Er zeigt in seiner Brutalität den moralischen Weltuntergang der Handelnden. Von Gott war nicht die Rede. Die große Katastrophe des 2. Weltkriegs und des Holocaust hatte viele Menschen noch nach Gott fragen lassen. Oft in einem bitteren Sinn: Wo war er? Muss auch er sich für das geschehene Unrecht verantworten? Welches Gericht ist hier zuständig?
Glaubende Menschen dürfen solchen Fragen nicht ausweichen. Doch sie werden Christus sein Recht als Richter nicht absprechen. Werner Bergengruen ließ bei Kriegsende in seinem Gedicht „Die letzte Epiphanie“ diesen Christus sich an das deutsche Volk wenden. Er sei ihm in den Gestalten der Verfolgten, Gedemütigten, Misshandelten erschienen. „Ihr aber habt mich in keiner erkannt. Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?“. Je länger die Dinge zurückliegen, desto mehr macht sich die Meinung breit: Von Gott kann und soll nicht die Rede sein. Auch wenn von der Schuld der Täter und ihrer Generation oft gesprochen und das Urteil gefällt wird.
Aber was geschieht, wenn man ein göttliches Gericht nicht für möglich halten oder wahrhaben will? Geht es dann nicht so wie Jesus sagte, dass Menschen die Verfehlungen anderer sehr deutlich sehen, die eigenen aber nicht? Selbstgerechtigkeit ist immer etwas Naheliegendes, im Kleinen und im Großen. Doch sie ist heimtückisch, weil sie für die Nächstenliebe keinen Raum lässt. Man müsste vor ihr so viel Angst haben wie die Christen im Mittelalter vor dem Jüngsten Gericht. Dabei kann der Gedanke an dieses hilfreich und tröstlich sein. Im letzten Vers von Paul Gerhardts Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ heißt es von Christus: „Er kommt zum Weltgerichte, zum Fluch dem, der ihn flucht, mit Gnad und süßem Lichte, dem, der ihn liebt und sucht“. Und er will sich von allen finden lassen, die ihn von ganzem Herzen suchen.