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Zwangsstörungen: Wenn das Kontrollieren sich verselbstständigt

Psychische Erkrankungen sind vielfältig. Zwangshandlungen und -gedanken sind eine davon. Betroffene wissen um ihr Problem, können sich aber selbst nicht helfen.

Betroffene von Zwangsstörungen kontrollieren ständig, ob der Herd aus ist
Betroffene von Zwangsstörungen kontrollieren ständig, ob der Herd aus istImago / Panthermedia

Sich selbst und seine Handlungen zu überprüfen, ist wichtig. Doch wenn das Überprüfen, das Kontrollieren, zur übertriebenen Vorsicht oder Rigidität wird, dann wird es problematisch. Professor Markus Steffens, Ärztlicher Direktor der DGD Klinik Hohe Mark, spricht im Interview über die krankhafte Seite des Kontrollierens.

Dinge überprüfen, sie hinterfragen, das ist wichtig …
Ja, in einem gewissen Maß. Man könnte statt von Überprüfen auch von Kontrollieren sprechen. Und Kontrolle in unserem Alltag kann absolut sinnvoll sein. Dass wir in unserem Handeln strukturiert und geordnet vorgehen, ist in einem gewissen Maß positiv und wünschenswert. Es gibt aber Grenzen und wenn die überschritten werden, dann wird es problematisch.

Zum Beispiel?
Nehmen wir an, Sie fahren übers Wochenende weg. Dass Sie vorher ein- auch zweimal kontrollieren, ob der Herd und das Licht aus sind, ist völlig normal und sinnvoll. Und es ist auch völlig normal, dass Menschen hin und wieder mal etwas zwanghaft reagieren, sich zwanghafte Gedanken entwickeln. Schwierig wird es, wenn es zum Teil meiner Persönlichkeit wird, wenn ich übervorsichtig werde, grundsätzlich und immer wieder Dinge anzweifle, wenn ich Dinge nur noch nach genau aufgestellten Regeln erledige, ausführlichste Pläne mache … Dann kann es sein, dass ich in meiner Persönlichkeit unflexibel werde.

Ist das schon die Grenze zur Zwangsstörung?
Die Grenze zur Zwangsstörung, also zur krankhaften Seite, ist dann überschritten, wenn solche Zwangshandlungen oder -gedanken meinen Alltag bestimmt. Ich weiß dann noch, dass das Regeln sind, die ich mir selbst auferlegt habe, aber ich muss alles dauernd wiederholen. Ich weiß auch, dass diese Handlung eigentlich nicht mehr sinnvoll ist, empfinde sie auch als störend oder unangenehm. Ich versuche es nicht zu tun, aber mein Widerstand ist erfolglos und ich mach es trotzdem. Die Handlung, der Gedanke ist für mich als Betroffener nicht angenehm, gleichzeitig fällt nach mehrfachem Kontrollieren eine gewisse Spannung ab. Manche sagen, es ist, als ob die Angst etwas weniger wird. Das ist eine typische Dynamik der Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen.

Das heißt, man ist sich voll bewusst, was man da macht, kann es aber nicht ändern?
Ganz genau. Das ist ein entscheidender Punkt. Ich habe mir das alles selbst auferlegt, ich erkenne, dass es nicht gut ist und würde es gern lassen, aber ich kann einfach nicht.

Wie sieht denn eine „typische“ Zwangsstörung aus?
Sie wirkt sich auf bestimmte Handlungen aus. Das kann das Kontrollieren von Herd, Licht oder Haustür sein, oder dass ich mehrfach am Tag duschen oder ständig meine Hände waschen muss. Häufig erfolgen diese Handlungen in einem stereotypen Ablauf und sind begleitet von zweifelnden Gedanken. Hab ich die Haustür wirklich abgeschlossen? Typisch ist auch, dass die Störung stärker wird, also, dass man den Herd nicht nur drei Mal kontrolliert, sondern irgendwann fünf Mal, zehn Mal. Die Kontrollen nehmen immer mehr Zeit im Alltag ein und fangen irgendwann an, mich im Alltag massiv zu behindern.

Wann weiß ich, dass ich Hilfe brauche? Und sind solche Zwangsstörungen behandelbar?
Wenn die Zwangshandlungen oder Gedanken an den meisten Tagen auftreten, mindestens über zwei Wochen, wenn ich merke, ich will das eigentlich gar nicht machen, kann es aber nicht stoppen. Und wenn ich merke, es entlastet mich, wenn ich es durchführe, dann sind das alles typische Kennzeichen, dass ich schon in der Zwangsstörung bin. Wichtig ist, dass Betroffene so früh wie möglich Hilfe suchen, dann kann man sie gut behandeln. Das Problem ist, dass die Krankheit stark mit Scham verbunden ist und viele daher erst sehr spät Hilfe suchen. Stattdessen wenden die Betroffenen sehr viel Mühe und Aufwand auf, um vor anderen zu verbergen, dass sie diese Störung haben. Ohne professionelle Hilfe gibt es aber nahezu keine Chance da rauszukommen.

Gibt es auch das gegenteilige Phänomen, dass Menschen so gar nicht kontrollieren?
Absolut. Wir Menschen haben sehr unterschiedliche Persönlichkeits- oder Charakterstrukturen und manche Typen kontrollieren überhaupt nicht. Denen würde ich bis zu einem gewissen Grad Kontrolle oder ordnende Mechanismen wünschen.

Es geht also um das richtige Maß?
Ganz genau. Und das ist gar nicht so einfach zu finden. Aber der Übergang zur Zwangsstörung, der ist sehr deutlich. Betroffene merken das selbst sehr deutlich, dass sie eine Grenze überschreiten, sie haben einen starken, meist schamhaft verheimlichten Leidensdruck. Das hat dann nichts mehr mit einem Maß an Kontrolle und Ordnung zu tun.

Professor Markus Steffens hat Humanmedizin in Mainz studiert und dort auch promoviert. Seit 2018 ist der 56-Jährige in der DGD Klinik Hohe Mark in Oberursel (Taunus) Chefarzt der Abteilung Allgemeinpsychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchtmedizin und Psychotherapie. Im Januar 2025 hat er die Aufgabe als Ärztlicher Direktor der Klinik übernommen.