Um das Jahr 1400 war Prag eine der wenigen von der Pest verschonten Städte in Europa. Hier entfaltete sich ein reges gelehrtes Leben an der neu gegründeten Universität. Das war die Welt des böhmischen Reformators Jan Hus. Angeregt durch die Schriften von John Wyclif (1320-1384) aus England, übte Hus starke Kritik an den Zuständen der Kirche seiner Zeit. Als zeitweiliger Rektor der Universität geißelte er den Ämterkauf und sittlichen Verfall des Klerus. „Die Priester predigen wohl gegen unsere Unzucht und unsere Laster“, so beklagte Hus, „aber von den ihrigen sagen sie nichts, also ist es entweder keine Sünde, oder sie wollen das Privilegium haben“. Für den Klerus schienen andere Maßstäbe zu gelten als für das Volk: Konkubinen hielt sich jeder Bischof, aber im Volk wurde Ehebruch streng verfolgt und endete oft mit dem Kirchenausschluss oder entsprechenden Geldzahlungen. War diese Kirche eine würdige Nachfolgerin Jesu? Sicherlich nicht, zumal während dieser Zeit bis zu drei Päpste mit harten Bandagen um die Vorherrschaft in der europäischen Kirche kämpften. Was hat das mit dem Evangelium zu tun?
Was hat das mit dem Evangelium zu tun?
Jan Hus blickte zurück zu den Wurzeln, zur Bibel. Er sah die Bibel als „ganz wahr und hinreichend zur Seligkeit des Menschengeschlechts“ an. Sie sei der Maßstab, nach dem sich das Leben richten müsse. Alle religiöse Wahrheit sei in ihr enthalten. Damit stellte er sich explizit gegen die kirchliche Meinung, dass neben der Bibel die kirchliche Tradition genauso wichtig für die Lehre sei. Nein, allein die Bibel ist der Maßstab für die Kirche und ihr Handeln. Daran müsse sich die Kirche, die Päpste und Bischöfe in ihrem Reden und Handeln messen lassen.
Aus diesen Gründen war es wichtig, dem Volk die Bibel zugänglich zu machen. Hus übersetzte einige Teile der Bibel ins Tschechische, damit sie alle lesen konnten. Zudem begann er in der Bethlehemskapelle in Prag auf Tschechisch zu predigen, damit das Volk etwas verstand. Einige Lieder dichtete er und führte den Gemeindegesang im Gottesdienst ein. Die Laien sollten nicht „Zuschauer“ der Zeremonien sein, sondern aktive Gläubige, die teilnehmen und mitreden können. Mit diesen Taten und Plänen löste er im böhmischen Volk Begeisterung aus, bei der angegriffenen Kirche natürlich nicht. Sie belegte ihn zunächst mit Predigtverbot und exkommunizierte ihn wenig später.
1414 wurde ein neuer Versuch unternommen, die Kirchenspaltung durch die Parallel-Päpste zu überwinden. Ein Konzil wurde nach Konstanz einberufen, weit genug entfernt von den päpstlichen Machtzentren und unter der Obhut des neugewählten deutschen Königs Sigismund (1411-1437). Dieser hatte Hus freies Geleit zugesagt, damit er seine Anliegen vorbringen könne. In seiner Abwesenheit wurde Hus jedoch gefangengenommen. Um das Konzil aber nicht zu gefährden, schritt Sigismund nicht ein. So wurde Hus als Ketzer angeklagt und, da er nicht widerrufen wollte, als solcher verbrannt.
Die Kirchenoberen meinten, damit auch diese Ideen verbrannt zu haben. Aber weit gefehlt. In Böhmen erhoben sich die Menschen gegen die deutsche Oberherrschaft und die Kirche, die „ihren“ Jan Hus so schmählich verraten haben. Jan Hus wurde zum Nationalheld, die Hussitenkriege brachen aus. Als Ergebnis bildete sich die Kirche der böhmischen Brüder, die besondere Privilegien erhielt, wie beispielsweise das Abendmahl in beiderlei Gestalt auszuteilen. Der Kelch wurde zum Zeichen der Reformation.
Eine andere kleine Gruppe von Laien suchte die Abgeschiedenheit von den Machtzentren und gründete in Kunwald 1457 die „Brüder vom Gesetz Christi“. Für sie sollte nur die Bergpredigt der Maßstab für ihr Handeln sein. Als Laienbewegung fand sie regen Zulauf, auch wenn sie fast immer kirchlich illegal war. Sie wurde vom böhmischen Landadel, der der Kirche gegenüber kritisch eingestellt war, unterstützt. Bald hatte die „Unitas fratrum“ (Brüder-Unität), wie sie sich später nannte, über 200 000 Anhänger in vielen Teilen Böhmens. Sie hat das Erbe Hus‘ aufgenommen, indem sie die Bibel vollständig ins Tschechische übersetzte. Diese „Kralitzer Bibel“ ist sprachprägend bis heute, ähnlich wie die Lutherbibel in Deutschland.
Kelche wurde Zeichen der Reformation
In der Gegenreformation und Rekatholisierung Böhmens wurden viele Mitglieder der Brüder-Unität zwangskonvertiert. Andere wanderten mit dem Bischof Jan Amos Comenius nach Polen aus. Von dort kamen 1722 unter der Leitung des Zimmermanns Christian David einige dieser Flüchtlinge zu dem Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) in die Oberlausitz. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
☐ Niels Gärtner ist Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine in Nordrhein-Westfalen. Verwendete Literatur: Pavel Soukup, Jan Hus, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2014.