Als vor zehn Jahren, am 24. März 2015, der Airbus eines Germanwings-Flugs an den französischen Alpen zerschellte, war für viele Familien und Freunde nichts mehr wie es vorher war. Alle 150 Insassen starben, darunter auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen aus Haltern am See in Nordrhein-Westfalen. Der Copilot Andreas L. hat den Absturz des Flugzeugs nach Überzeugung der Ermittler bewusst und absichtlich herbeigeführt. Über die “Sinnlosigkeit der Tat” und Sensationstouristen spricht der Psychotherapeut und Traumaexperte Christian Lüdke im Interview. Er hatte Angehörige damals psychologisch betreut.
Herr Lüdke, Sie haben 2015 Angehörige von Opfern der abgestürzten Germanwings-Maschine betreut. Was haben Sie damals erlebt?
Christian Lüdke: Bei dem Absturz sind 16 Schüler und zwei Lehrerinnen aus Haltern am See ums Leben gekommen. Ich habe damals einige der Angehörigen und Kollegen psychologisch betreut, zunächst in der ersten Schockphase und dann darüber hinaus noch drei bis sechs Monate. Meine Aufgabe war vor allem in den ersten zwei Wochen nach dem Ereignis, die Hinterbliebenen zu stabilisieren, ihnen Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. Später ging es auch darum, Ressourcen wie soziale Kontakte zu mobilisieren. Der Absturz war eine menschengemachte Katastrophe. Die Sinnlosigkeit der Tat hat es für die Hinterbliebenen extrem schwierig gemacht.
Gibt es einen Unterschied beispielsweise zu Naturkatastrophen?
Ja, eine Naturkatastrophe ist höhere Gewalt; der Natur kann man im Nachhinein die Schuld geben – auch wenn das Erlebnis natürlich schrecklich und lebensverändernd bleibt. Bei diesem von einem Menschen absichtlich herbeigeführten Unfall bleibt die Frage nach dem “Warum” und ob es nicht irgendwie hätte verhindert werden können. Bei dem Absturz wurden zudem zwei sogenannte Lebensgesetze gebrochen: dass Kinder vor ihren Eltern und außerdem einen unnatürlichen Tod gestorben sind. Eltern sind nach so einem Ereignis untröstlich – ein Leben lang. Diesen Schmerz und Verlust kann man nicht heilen, auch nicht als Psychotherapeut.
Sie haben auch Angehörige begleitet, als diese an den Unfallort in die französischen Alpen gereist sind. Welche Rolle spielt so ein Besuch bei der Verarbeitung?
Viele der Angehörigen sind damals an den Unfallort gereist, um ihren verstorbenen Angehörigen nahe zu sein, die Atmosphäre zu spüren. Das ist sehr wichtig, um das Geschehen anzunehmen und zu realisieren. Allerdings waren bei diesem von Germanwings organisierten Flug auch einige Sensationstouristen dabei, die sich mit an Bord geschlichen hatten. Sowas erlebe ich in meiner Arbeit leider immer wieder. Es gibt Menschen, die aus dem Leid anderer Profit schlagen möchten. Nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg im vergangenen Dezember habe ich ebenfalls Opfer psychologisch betreut. Bei mir hatte sich dabei ein Paar gemeldet, die angaben, dabei gewesen zu sein – sie wollten Kleidung im Wert von 900 Euro erstattet bekommen und psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Es stellte sich schnell heraus, dass sie lügen und gar nicht vor Ort gewesen waren. So ein Verhalten ist absolut pietätlos und abgebrüht. Bei den Anschlägen in New York 2001 – auch da war ich vor Ort – gab es einen regelrechten Kriminalitätstourismus. Menschen haben toten Polizisten die Uniform ausgezogen, sich dann selbst als Polizist ausgegeben und in Geschäften teure Waren beschlagnahmt. So ein Verhalten macht mich immer wieder sprachlos.

Ein Jahr vor dem herbeigeführten Absturz der Germanwings-Maschine, 2014, verschwand ein Flugzeug der Malaysia Airlines mit 239 Menschen an Bord vom Radar. Bis heute gilt es als verschollen.
So zynisch wie das klingt: Es ist wichtig, die schreckliche Gewissheit zu haben, dass Angehörige tot sind, so wie es bei Germanwings der Fall war. Sonst gibt es immer noch eine Rest-Hoffnung – darauf zum Beispiel, dass die Maschine entführt wurde und die Passagiere noch irgendwo leben. Um irgendwie abzuschließen, braucht es Gewissheit; die Leichen der Angehörigen. Die sterblichen Überreste der Passagiere des Germanwings-Flug konnten bestattet werden.
In den vergangenen Monaten gab es mehrere willkürliche Angriffe mit Autos oder Messern auf Menschen. Zumindest einige der Täter waren offenbar psychisch krank oder auffällig. Der Pilot der Germanwings-Maschine soll schwere Depressionen gehabt haben. Erklärt das die Taten?
Es gibt 170 verschiedene psychische Störungen – egal ob Angst- oder depressive Störungen: Bei allen geht es um Beziehungsstörungen. Ein psychisch gestörter Mensch kann jemand mit einer hohen Planungsfähigkeit sein, der ein Vorhaben gezielt plant und umsetzt. Eine Störung gibt niemanden das Recht, sich in anderer Menschen Leben einzumischen und sie sogar zu töten. Anders als bei Menschen in einer Psychose mit Wahnvorstellungen wissen beispielsweise depressive Menschen sehr gut, was sie tun.
Inspirieren solche Taten wie etwa die jüngsten Amokfahrten auch Nachahmer?
Nein. Menschen, die so etwas tun, befinden sich in einem Aggressionsstau, haben Wuthemmungen, fühlen sich als Versager. Diese gefühlte Ohnmacht führt bei einigen wenigen zu einer Übersprunghandlung wie einer Amokfahrt. So eine Tat hat dann eine lange Vorgeschichte und entsteht aus der Persönlichkeit des Täters heraus.