Ein Jahr Corona-Pandemie: Wie schauen Sie zurück? Waren wir als Kirche zu still, zu staatshörig?
CMB: Das Wort „staatshörig“ halte ich in dem Zusammenhang für völlig unangebracht. Ich habe die Gemeinden alles andere als still erlebt. Es gab einen enormen Kommunikationsschub gerade im Bereich der neuen Medien. Vielleicht haben wir in den klassischen Medien nicht immer das platzieren konnten, was man sich wünschte, aber das lag mit Sicherheit nicht an einem verordneten Still-Sein. Wir sind als Kirche eine zivilgesellschaftliche Partnerin unter vielen und wollen gemeinsam durch diese Krise kommen. Das war nicht der Zeitpunkt, um in den
Widerstand zu gehen. Was hätten Sie als Kirchenleitende anders machen müssen? Gibt es auch einen selbstkritischen Blick zurück?
CS: Ja, natürlich. Ich frage mich, wo haben wir Menschen allein gelassen, wo waren wir gerade am Anfang nicht genug für die Sterbenden da. Haben wir die Kinder im Blick gehabt, sind wir wirklich laut genug für die Öffnung von Kitas und Grundschulen eingetreten? Meine Sorge ist, dass wir bei den langfristigen Folgen der Pandemie erst noch aufwachen werden, wir sprechen ja schon von der Generation Corona.
Staatshörig? Nein, aber ich frage mich, ob wir das Eigene, was wir als kirchliche Stimme beizutragen haben, laut genug sagen. Es ist ja nicht unsere Aufgabe, die staatliche Stimme zu verdoppeln, sondern mit der eigenen auf das hinzuweisen: Sterben nicht verdrängen; mit der Endlichkeit umgehen; mit Trost bei den Sterbenden sein; Menschen, die an den Folgen der Pandemie leiden, stärken. Wir sind nicht für die Regulierung da, sondern für die Menschen.
Wie viel Gestaltungsmöglichkeit haben Sie überhaupt als Kirchenleitende?
CS: Gut evangelisch sind wir als Kirche gemeinsam auf dem Weg und tragen beruflich und ehrenamtlich Verantwortung. Den Versuchungen in einer Pandemie – dass es in Krisenzeiten etwas autoritärer werden darf – müssen wir als Kirche unbedingt widerstehen. Wir können in der Vielgestalt der evangelischen Kirche Impulse und Orientierung geben. Dafür braucht es mutiges Vorangehen – und auch da frage ich mich, ob wir das immer ausreichend getan haben. Damit die Kirche sich weiterentwickeln kann, ist es selten radikal genug!
Bedarf es nicht radikaler Reformen, damit die Jesusbewegung auch in Zukunft Salz der Erde sein kann?
CMB: Was sich in den Pandemiemonaten deutlicher gezeigt hat, ist die Bruchstelle oder auch Spannung zwischen dem, was die Gemeinden beherzt als ihre Verantwortung wahrnehmen und bei welchen Entscheidungen sie auf kirchenleitende Orientierung warten. Es tut uns also gut, insgesamt darüber nachzudenken, wie radikal unsere Erneuerung sein kann. Ein wesentlicher Teil der Erneuerung wird sein, sich an diese Eigenverantwortung zu erinnern. Wir können viel radikaler, disruptiver denken im Blick auf Erneuerung, organisatorische Verschlankungen, Entscheidungswege. Das hat uns die Pandemiezeit ins Stammbuch geschrieben.
Ein anderes großes Ereignis jährte sich vor Kurzem, das Reaktorunglück in Fukushima vor zehn Jahren: Haben wir daraus etwas gelernt? Geht das überhaupt?
CS: Es scheint sehr selten, dass man etwas aus der Geschichte lernt, aber Fukushima hat, zumindest in Deutschland, unmittelbar zu einem politischen Umdenken geführt. Der Ausstieg aus der Atomenergie in dem Tempo wäre ohne diese schreckliche Erfahrung sicher nicht so schnell umgesetzt worden. Eine Rückkehr zur Atomenergie, die derzeit wegen der umweltschädigenden anderen Energien diskutiert wird, hielte ich für einen Rückschritt. Im Blick auf den menschengemachten Klimawandel haben wir gelernt, dass wir unsere Energiegewinnung schneller, radikaler und nachhaltiger umstellen müssen, um die Schöpfung zu bewahren.
CMB: Die Kernkraft rettet nicht die Welt. Und bei aller Risikofolgenabschätzung ist der Risikofaktor unberechenbarer Mensch nicht einzufangen. Es gibt immer noch Luft nach oben bei der erneuerbaren Energie, und so lange die nicht ausgeschöpft ist, haben wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht.
In der katholischen Kirche geht es rund. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt scheint fast ihr einziges Thema zu sein, allenfalls schafft es noch die Bewegung Maria 2.0 in die Medien. Die evangelische Kirche hält sich mit Kommentaren zurück. Warum?
CS: Die Schuld, die die Kirche, die beide Kirchen sich hier aufgeladen haben, ist grenzenlos. Jede einzelne Tat ist furchtbar und bedarf der Aufarbeitung. Jeder Übergriff ist einer zu viel, nie ist etwas gar zu entschuldigen. Ich will das so klar sagen. Und danach lässt sich nicht einfach so weiterreden …
Es hat auch in der evangelischen Kirche furchtbaren Missbrauch gegeben, es ist überhaupt nicht angebracht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Andererseits sind die Bedingungen sehr unterschiedlich und jede Kirche hat ihren eigenen Weg. Man muss über diese unterschiedlichen Bedingungen und Zusammenhänge reden und darf nicht alles in einen Topf werfen. Ich kenne viele römische Geschwister, die sehr unter diesen Geschichten leiden. Wir leiden mit ihnen.
Welche Impulse braucht die ökumenische Bewegung vor diesem Hintergrund heute?
CMB: Wir können Einheit nicht um jeden Preis herstellen. Unsere Zeit erlebe ich eher als eine Phase profilierter Verschiedenheit. Bei etlichen Themen sehe ich eher einen ökumenischen Abstand, ein Benennen der Differenzen – das macht Arbeit. Auch die Arbeit, die Differenz auszuhalten. Auf der anderen Seite gibt es eine gemeindliche Ökumene, die nicht ins Stocken geraten ist. Auf der katholischen Seite besteht meiner Einschätzung nach viel Angst. Angst und Sorge um institutionellen Erhalt, um Verlust von Macht und Einfluss. Es geht ja auch um Kontrolle – das mag nachvollziehbar sein, aber hinnehmbar ist es nicht.
CS: Dem stimme ich zu. Wir brauchen ein gutes Aushalten profilierter Verschiedenheit, immer im Wissen um die vielen Gemeinsamkeiten. Ökumene läuft immer in Wellenbewegungen. Nur durch die Beschreibung profilierter Standpunkte wird wieder mehr offener Dialog möglich. Das erleben wir gerade auch bei der Frage nach dem gemeinsamen Abendmahl. Nach viel Hoffnung und Euphorie 2017 gehen wir jetzt durch ein Tal der Enttäuschung.
Dazu gehört der interreligiöse Dialog, der heute immer wichtiger wird und die Bedeutung der ökumenischen Dialoge fast ein wenig in den Hintergrund treten lässt. Die ökumenische Bewegung muss aufpassen, dass – wenn keine Fortschritte erzielt werden – sie nicht eines Tages von der Zeit überholt wird.
Um den assistierten Suizid ist eine neue Debatte entbrannt. Sie, Bischof Stäblein, sagten vor Kurzem „zur falschen Zeit“. Was meinten Sie damit? Und was erwarten Sie von der Diskussion für das Klima in den kirchlichen Einrichtungen?
CS: In der Corona-Zeit ist unsere erste Herausforderung, Menschen beim Sterben zu begleiten und für alle Menschen die gleiche Würde des Lebens festzuhalten. Zu der Zeit eine Diskussion aufzubringen, bei der man aufpassen muss, dass am Ende nicht nur stehenbleibt, in kirchlichen Einrichtungen sei nun der assistierte Suizid auch ein Angebot unter vielen, schien mir problematisch. Aber selbstverständlich ist die Debatte wichtig und nötig!
Ich verstehe Fulbert Steffensky, der sagt: „Mir sind alle glatten Antworten zuwider, sowohl die eine, die das Recht auf die absolute Selbstbestimmung postuliert, wie auch die andere, die auf der Unverfügbarkeit des Lebens und des Todes besteht.“ Es gibt keine einfachen Antworten, es geht ja oft um Grenzfälle, über die wir reden müssen. Auf der Ebene der Normen kann ich mir nicht vorstellen, dass in kirchlichen Einrichtungen der assistierte Suizid quasi „ins Portfolio“ aufgenommen wird, das ist abwegig. Als Allererstes bieten wir Sterbebegleitung und Sterbehilfe im klassischen Sinn an: Gebet, Dasein, Begleiten, keine falschen lebensverlängernden Maßnahmen, gute Palliativmedizin.
CMB: Wir haben zurzeit eine besondere Konfrontation mit dem Tod; Todesängste sind ein gesellschaftliches Thema geworden. Darauf kann man unterschiedlich reagieren, mit Verdrängung oder mit Kontrollsehnsucht. Die Sehnsucht, den Todeszeitpunkt festlegen zu können, gehört dazu. Die derzeitige Diskussion offenbart, wie problematisch es ist, wenn wir auf diese Art Kontrolle über unsere Endlichkeit bekommen wollen. Wir müssen genau darauf schauen, wie sich der Diskurs über Selbstbestimmung gesellschaftlich verschiebt.
Welche Erwartungen haben Sie in diesem Jahr an die Karwoche und die Osterfeiertage?
CMB: Ich wünsche mir, dass wir uns in unserem Auftrag gegenseitig unterstützen und mit offenen Angeboten da sind für alle, die Schweres durchmachen mussten. Wir stehen miteinander vor dem Wunder, dass wir Herausgeführte sind und dass Gott Leben für uns bereithält.
CS: Gerade auch in diesem Jahr ist für mich das Feiern von Karfreitag und Ostern das Geführt-Werden in die Einsicht: Gottes Reihenfolge ist eine andere als unsere. Unsere ist leben und sterben, Gottes: sterben und leben. Das kann in der Pandemie viel Kraft geben. Es gibt ein Leben danach und darin, immer wieder.