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„Wir sind doch keine Heimkinder!“

Kinder und Jugendliche, die in Wohngruppen und Heimen leben, werden oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Die Graf-Recke-Stiftung macht das in einer Initiative zum Thema und fordert ein gesellschaftliches Umdenken.

Im Flur der Wohngruppe „Talamod“ in Hilden steht die zehnjährige Leo­nora vor der Tafel mit den „Wutquatschwörtern“. Hier darf jeder seine Wut rauslassen, indem er verrückte Schimpfwörter aufschreibt. Gründe wütend zu sein, hat Leonora genug. Sie lebt hier mit sechs anderen Kindern, die in ihren Familien Schlimmes erlebt haben. Hier ist jetzt ihr Zuhause, in das sie gerne auch mal Schulkameradinnen einladen würde. Doch die kommen nur selten.
„Die Eltern haben Angst, dass wir austicken und ihren Kindern dann was antun“, erzählt sie. „Die reden, als wenn wir der Teufel wären.“ Der 13-jährige Manuel gibt zu, dass er sich deshalb schon in der Schule geprügelt hat. Und die 14-jährige Leo­nie verschweigt am liebsten ganz, dass sie in einer Wohngruppe lebt. „Ich habe Angst, dass ich dann ausgeschlossen werde. Deshalb weiß das eigentlich nur meine Familie.“

Film verstanden als Einstieg zum Umdenken

Hartnäckig hält sich in der deutschen Gesellschaft das Bild vom schwer erziehbaren, aggressiven und armen Heimkind. Ein Begriff, den Fachleute in der Jugendhilfe nur selten verwenden, weil sich dahinter jede Menge Vorurteile und Klischees verbergen. Dennoch benutzt ihn die Graf-Recke-Stiftung jetzt bewusst, um mit ihrer Initiative „Wir sind doch keine Heimkinder!“ in eine Diskussion mit Betroffenen, ihren Angehörigen und dem gesellschaftlichen Umfeld zu kommen.
Die Diakonie RWL, die als größter Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen knapp 150 Einrichtungen vertritt, unterstützt die Initiative und lädt kirchliche Träger und Einrichtungen ein, sich daran zu beteiligen. „Das Leben im Heim der Nachkriegszeit unterscheidet sich deutlich vom Alltag, den Kinder und Jugendliche heute in den Wohngruppen der Jugendhilfe erleben“, betont Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. „Sie werden dort von familiären Konflikten entlastet, von pädagogischen Fachkräften gezielt gefördert und können neue Beziehungen zu anderen jungen Menschen knüpfen.“ Auch ihre Möglichkeiten zur Mitbestimmung, Mitgestaltung und Beschwerde seien in den vergangenen Jahren deutlich verbessert worden.

Kernstück der Initiative ist ein 52-minütiger Film, der im Februar in einem großen Düsseldorfer Kino Premiere feierte. Dort kommen die Kinder und Jugendlichen der Wohngruppe „Talamod“ ebenso zu Wort wie ehemalige „Heimkinder“, Erzieher, Eltern und Verantwortliche der Graf-Recke-Stiftung.
„Die Leute wissen gar nicht, wie wir leben. Mit unserem Film möchten wir der Öffentlichkeit zeigen, wie Heimkinder wirklich ticken“, betont Alex, der Vorsitzender des Kinder- und Jugendrates der Graf-Recke-Stiftung ist. Der Dokumentarfilm der WDR-Journalistin Anke Bruns soll auch in Schulen, Jugendzentren, Kirchengemeinden oder Volkshochschulen gezeigt werden. Mit Fachtagen und Diskussionsveranstaltungen wollen die Initiatoren in diesem Jahr eine breite gesellschaftliche Debatte über Heimerziehung anstoßen. Materialien dafür gibt es auf einer eigenen Webseite (www.wir-sind-doch-keine-heimkinder.de).
Bewusst kommen in dem Film auch ehemalige Heimkinder der Graf-Recke-Stiftung zu Wort. „Das Thema begleitet viele diakonische Träger – als Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und in der Gegenwart als Verpflichtung zu bestmöglicher pädagogischer Betreuung und Begleitung“, betont der Theologische Vorstand der Graf-Recke-Stiftung, Pfarrer Markus Eisele.

Ilse Fetzer und Herbert Schneider, die in den 1960er Jahren im Kinderheim „Neu-Düsseltal“ lebten, haben dort unter den autoritären und gewalttätigen Erziehungsmethoden gelitten. Das Heim sei für sie wie ein Gefängnis gewesen, erzählt Ilse Fetzer. „Ich habe dort einen richtigen Knacks bekommen“, sagt Herbert Schneider.
Auch Jakob Nüßgen, der in den 1980er Jahren in einem Heim der Graf-Recke-Stiftung wohnte, berichtet noch von einer Erziehung der Härte und Gewalt. Nach vier Jahren durfte er die Gruppe wechseln. Endlich traf er dort einen Erzieher, der ihn verstand und ermutigte und den er heute noch wie einen Vater liebt. Im Gegensatz zu Ilse Fetzer und Herbert Schneider hat er immer offen darüber gesprochen, dass er im Heim groß geworden ist. „Dieser Erzieher hat mir beigebracht, dass ich für das, was ich möchte, kämpfen muss“, sagt er.

Zuwendung statt Schimpfe und Strafe

Genau dazu sollen die Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen heute ermutigt werden. Anderen selbstbewusst, aber auch respekt­voll zu begegnen trotz all der schlechten Erfahrungen, die sie in ihrem Leben schon gemacht haben – das ist keine einfache Sache. Der Film verschweigt daher nicht, wie anspruchsvoll die „Heimerziehung“ heute ist.
Angela Babbaro, Leiterin der Tamalod-Wohngruppe, wird mit einem Jungen gezeigt, der traurig und aggressiv ist. Statt mit Schimpfe und Strafe reagiert sie mit Zuwendung und Entspannungstipps. Wie sie „deeskalieren“, Kinder und Jugendliche in Entscheidungen einbeziehen und sprachfähig machen kann, lernt sie heutzutage schon in ihrer Ausbildung und in Fortbildungen.

„Partizipation“ ist das Stichwort, mit dem die Diakonie RWL schon seit einigen Jahren in den diakonischen Einrichtungen unterwegs ist. Sie unterstützt ihre Mitglieder bei der Entwicklung neuer Beteiligungs-und Beschwerdekonzepte für die Kinder und Jugendlichen sowie für Eltern.
Tim Rietzke, Leiter des Geschäftsfeldes „Familie und junge Menschen“ bei der Diakonie RWL, fordert die Einrichtungen auf, mehr nach außen zu tragen, was sich in der sogenannten Heimerziehung verändert hat. „Wir müssen offener und offensiver werden. Die Initiative ist dazu ein guter und mutiger Schritt.“

•  Der Gastbeitrag ist von der Diakonie Rheinland-West­falen-Lippe (RWL).