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«Wir müssen die Verlierer mitnehmen»

Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz – ein Gegensatz?

Berlin (epd). Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz bilden für den Ökonomen Marcel Fratzscher keinen Gegensatz. Zwar werde ein klimagerechter Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in bestimmen Branchen Jobs kosten und soziale Belastungen mit sich bringen. Aber: «Wenn wir es gut machen, wird Deutschland gewinnen und viele gute Arbeitsplätze neu schaffen», sagt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschafsforschung (DIW) im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Soziale Gerechtigkeit schließe Generationengerechtigkeit ein, betont er.

 

epd: Herr Fratzscher, Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. Das erfordert einen erheblichen ökonomischen und gesellschaftlichen Umbau. Wird es Verlierer geben?

Marcel Fratzscher: Ja, zweifelsohne. Es werden Arbeitsplätze verschwinden. Beim Kohleausstieg vollzieht sich das ja schon seit 40 Jahren. Aber wenn wir nicht handeln, werden wir alle verlieren. Klimabedingte Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Trockenperioden lassen das jetzt schon erahnen. Die sozialen und ökonomischen Kosten werden dadurch enorm sein. In den letzten 200
Jahren hat es übrigens immer wieder Verlierer gesellschaftlicher Transformationen gegeben, etwa durch die Globalisierung.

 

epd:  Wie lassen sich die sozialen Härten abfedern?

Fratzscher: Wir müssen die Verlierer mitnehmen, sie entschädigen und ihnen Chancen eröffnen, ihr Leben neu zu gestalten. Dazu müssen wir Innovation und neue Technologien fördern, die Arbeitsplätze schaffen. Und die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sollten eins zu eins an jene Menschen zurückfließen, die von der Verteuerung der Energie besonders betroffen sind. Diese Klimaprämie sollte einkommensbezogen sein, damit die Schwächsten profitieren.

 

epd: Ein hoher CO2-Preis belastet auch Unternehmen – eine Gefahr für den Standort Deutschland und die Arbeitsplätze?

Fratzscher:  Eine hohe CO2-Abgabe schadet nicht der Wettbewerbsfähigkeit, wie viele Industrieverbände meinen. Sie ist vielmehr eine riesige Chance, sich im globalen Wettbewerb neue technologische Vorteile zu verschaffen, denn sie erhöht den Innovationsdruck. Man muss aber auch klar sagen: Viele deutsche Autozulieferer zum Beispiel werden die Entwicklung hin zur Elektromobilität nicht überleben. Aber das kann kein Argument sein, den Klimaschutz zu verzögern. Wenn wir es gut machen, wird Deutschland gewinnen und viele gute Arbeitsplätze neu schaffen.

 

epd: Welche Mittel zur Beschleunigung des Umbaus empfehlen Sie neben dem CO2-Preis?

Fratzscher: Wir müssen auch regulieren, also über Gebote und Verbote einen Rahmen setzen. Manche Länder haben festgelegt, dass dort ab 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr verkauft werden sollen. Das ist kein übertriebener Eingriff in die Marktwirtschaft, sondern eine klare regulatorische Richtlinie, die fairen Wettbewerb ermöglicht. Ich glaube, dass wir mit einer Kombination aus marktwirtschaftlichen Anreizen wie dem CO2-Preis, verlässlichen Regulierungen und
staatlicher Unterstützung bei der technischen Entwicklung vorankommen.

 

epd: Das Bundesverfassungsgericht hat das Klimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt, weil es die Interessen künftiger Generationen nicht berücksichtige. Inzwischen ist das Gesetz verschärft worden. Gehört Generationengerechtigkeit zur sozialen Gerechtigkeit oder stehen beide Begriffe in einem Spannungsverhältnis zueinander?

Fratzscher: Soziale Gerechtigkeit schließt immer auch künftige Generationen ein. Die Menschen, die heute noch nicht leben und noch keine Stimme haben, müssen berücksichtigt werden. Es ist kein Akt der Großzügigkeit, an die zu denken, die noch geboren werden, sondern Teil des Gesellschaftsvertrages. Wir haben uns unseren ungeheuren Wohlstand hier in Deutschland ja auch nicht selbst erarbeitet. Das waren vorherige Generationen: Sie waren innovativ und erfindungsreich, haben einen starken Sozialstaat und Institutionen aufgebaut.

 

epd: Was ist mit der globalen Gerechtigkeit? Unter dem Klimawandel leiden ja vor allem die Ärmsten in Entwicklungsländern, schenken wir in Deutschland diesen Menschen genügend Beachtung?

Fratzscher: Das ist der blinde Fleck, den wir leider in vielen Diskussionen haben: Wir schauen fast nur auf unser eigenes Land – und realisieren dabei nicht, dass Industrieländer wie Deutschland zu den Hauptverursachern des Klimawandels gehören. In Indien zum Beispiel wird längst nicht so viel CO2 pro Kopf verursacht wie bei uns. Da stehen wir in der Verantwortung. Das Pariser Klimaabkommen sieht vor, dass wir Entwicklungs- und Schwellenländer beim ökologischen Umbau mit Geld und Technologietransfer unterstützen. Aber das tun wir noch nicht ausreichend.

 

epd: Wird die Sorge ums Klima die Bundestagwahl am 26. September mitentscheiden?

Fratzscher: Ich fürchte, nicht. Einigen Politikern ist es gelungen, den Menschen zu suggerieren, Klimaschutz werde ihnen extrem große Opfer abverlangen. Es wird bewusst Angst geschürt. In den Köpfen vieler Wähler hat sich festgesetzt, dass wirtschaftlicher Wohlstand und Klimaschutz zueinander im Widerspruch stehen. Dabei ist Klimaschutz die Grundlage für künftigen Wohlstand.

 

epd: Hat womöglich auch die Corona-Pandemie das Thema Klimaschutz in den Hintergrund gedrängt?

Fratzscher: Ja, in der Pandemie haben die Menschen Angst um ihre Gesundheit und um die ihrer Familien. Sie haben Probleme, die mit Klima wenig zu tun haben. Aber meine Hoffnung ist, dass in der Corona-Krise vielen bewusst geworden ist, dass man globale Probleme nur gemeinsam lösen kann. Dazu gehören Pandemien, der digitale Wandel und eben auch der Klimawandel.