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Willi Herold: Der Henker vom Emsland

Der Soldat und Schornsteinfegerlehrling Willi Herold ist gerade 19 Jahre alt, als er Ende März 1945 von seiner Truppe bei Gronau in der Grafschaft Bentheim getrennt wird. Nahe der niederländischen Grenze findet er einen zerschossenen Geländewagen und darin die Uniform eines hochdekorierten Hauptmanns der Wehrmacht, berichtet die Archivarin der KZ-Gedenkstätte Esterwegen, Kathrin Flor. Dort ist der Fall Herold ausführlich in der Dauerausstellung dokumentiert.

Der 1925 im sächsischen Lunzenau geborene Herold wechselt mit der Uniform seinen Rang vom Gefreiten zum hohen Offizier und sammelt weitere versprengte Soldaten um sich. Was sich bis dahin wie die Geschichte vom „Hauptmann von Köpenick“ anhört, ändert sich, als er mit seinen Leuten am 11. April im Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor im niedersächsischen Emsland eintrifft. Binnen zwei Wochen mordet er willkürlich im Lager und der Umgebung und erwirbt sich den zweifelhaften Ruf des „Henkers vom Emsland“.

Das Lager II zählt zu den 15 Emsland-Lagern in der abgelegenen Moorregion. In dem überfüllten Lager warten Ende April 1945 rund 3.000 Straf- und Kriegsgefangene auf die bereits nahen Alliierten und ihre Befreiung. Seit Tagen treffen immer wieder entkräftete Häftlinge aus den anderen evakuierten Lagern dort ein. Auf diesen Märschen können etliche Gefangene fliehen, doch kleine Trupps der Lagerwachen und des Volkssturms suchen die Geflohenen und schleppen sie ins Lager.

„Der Lagerkommandant Johann Friedrich Hansen war mit der Situation völlig überfordert“, schildert Flor die Zustände in dem Lager Aschendorfermoor. Herold behauptet, er sei vom Führer, also Adolf Hitler, beauftragt, durchzugreifen. Trotz seiner Jugend tritt er so autoritär und forsch auf, dass seine Befehlsgewalt nicht angezweifelt wird. Nach zwölf Jahren NS-Herrschaft wagt es niemand mehr, jemandem mit solch einem Machtgebaren zu widersprechen. Außerdem kann Hansen auf diese Weise einen Teil seiner Verantwortung abgeben, sagt Flor.

In den kommenden Tagen lässt Herold mindestens 172 Gefangene erschießen und in einem Graben außerhalb des Lagerzauns verscharren. Zwar greift der Lagerkommandant Hansen nach den ersten Schüssen ein und versucht aus Berlin eine Bestätigung zu bekommen. Doch die Leitungen in die Reichshauptstadt sind unterbrochen. Letztlich zeigt die Gestapo in Emden sich damit einverstanden, dass Herold sogenannte Standgerichte abhält. Bei Standgerichten gibt es nur zwei Urteile: Freispruch oder die unmittelbar auszuführende Todesstrafe.

Als das Lager am 19. April bei einem alliierten Luftangriff zerstört wird, setzt sich Herold mit seinen Leuten nach Norden ab. Auf dem Weg lässt er einen Bauern hinrichten, der angesichts der anrückenden Alliierten die weiße Fahne gehisst hat. In der Stadt Leer holt er fünf Niederländer aus dem Gefängnis, die zur Zwangsarbeit entführte Landleute befreien wollten – und lässt sie erschießen.

Am 28. April fliegt Herolds Schwindel in Aurich doch auf. Er muss sich am 3. Mai in Norden vor einem Kriegsgericht verantworten, kommt aber auf Druck der SS frei, mit der Auflage, in einer SS-Einheit weiterzukämpfen. Doch Herold desertiert bei der ersten Gelegenheit und setzt sich nach Wilhelmshaven ab. Wenige Tage später kapituliert Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945. Gut zwei Wochen danach wird Herold am 23. Mai von britischen Soldaten verhaftet, als er einen Laib Brot stehlen will.

In den folgenden Verhören wird schnell klar, dass Herold ein gesuchter Kriegsverbrecher ist. Mit elf weiteren Angeklagten steht er am 13. August 1946 als Hauptverantwortlicher vor dem britischen Militärgericht in Oldenburg. Er ist angeklagt wegen 200-fachen Mordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bei der Vernehmung soll Herold gesagt haben: „Warum ich nun eigentlich die Leute im Lager erschossen habe, kann ich gar nicht einmal sagen.“ Das Gericht spricht Herold und sechs weitere Angeklagte schuldig und verurteilt sie zum Tode. Am 14. November 1946 werden sie in Wolfenbüttel mit dem Fallbeil hingerichtet.

„Das Unfassbare an dem Fall ist, dass, wann immer Herold angezweifelt wurde, es nur um die ordnungsgemäße Befehlskette ging“, sagt Archivarin Flor. Dass ein 19-Jähriger den Rang eines Hauptmanns haben sollte, sei genauso wenig hinterfragt worden wie die Rechtmäßigkeit, Gefangene einfach zu erschießen.

Die 172 Gefangenen des Massakers im Lager Aschendorfermoor wurden noch 1946 exhumiert und auf einem neu angelegten Friedhof am früheren Lagergelände beigesetzt. Bis heute ist dieser Friedhof als „Herold-Friedhof“ bekannt, sagt Flor.