Der Kosovo bleibt ohne Regierung. Das Mandat der vorigen ist abgelaufen – nun setzt sie die Arbeit ohne parlamentarische Kontrolle fort. Ein erster Schritt wäre die Einigung auf einen Vorsitz.
Eine Nation wählt ein neues Parlament – und wird dann zur Geisel politischer Machtkämpfe. Überspitzt stellt sich so die gegenwärtige Situation im Kosovo dar. Während das Land weiter um staatliche Anerkennung ringt, will sich partout keine neue Regierung finden lassen.
Der politische Stillstand dauert an: Auch beim 22. Anlauf ist Kosovos Parlament am Dienstag an der Wahl eines neuen Vorsitzenden gescheitert. Damit bleibt der Balkanstaat, der nach wie vor um die Anerkennung durch Serbien und einige EU-Staaten kämpft, auch mehr als drei Monate nach der Wahl ohne Regierung. Das könnte die aufstrebende Nation dringend benötigte Entwicklungsgelder kosten.
Anfang Februar hatte die Regierungspartei Levizja Vetevendosje (“Bewegung Selbstbestimmung”, VV) die Parlamentswahl mit 42 Prozent gewonnen – und damit ihre absolute Mehrheit von 2021 verloren. Seither entwickelte sich der gesetzliche Prozess zur Farce: Alle 48 Stunden tritt derzeit das Parlament in der Hauptstadt Pristina zusammen, um seine Eröffnungssitzung zu wiederholen. Dabei soll ein Parlamentspräsident gewählt werden – als Voraussetzung für eine Regierungsbildung.
Allerdings: Die Opposition boykottiert die Kandidatin der Regierungspartei, die 38-jährige Ex-Justizministerin Albulena Haxhiu – zum Ärger des amtierenden Ministerpräsidenten Albin Kurti. Er und die Opposition schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Pattsituation zu. “Die VV will den Kosovo um jeden Preis in einer institutionellen Krise halten”, tobt Memli Krasniqi von der zweitplatzierten Demokratischen Partei. Vor zwei Wochen hatte sich auch Präsidentin Vjosa Osmani eingeschaltet; doch selbst das Krisentreffen zwischen Regierungs- und Oppositionspolitikern bei der Staatschefin brachte nicht den erhofften Durchbruch.
Beobachter sind alarmiert. Zum einen, weil die politische Krise dazu führen könnte, dass sich das offizielle Belgrad bestätigt fühlt: Trotz Ausrufung der Unabhängigkeit 2008 betrachtet die serbische Regierung den Kosovo nach wie vor als serbisches Territorium. Zum anderen, weil es sich beim Kosovo um einen der ärmsten Staaten Europas handelt. Ohne entscheidungsfähige Regierung könnten dem Land wichtige Gelder aus dem EU-Wachstumsplan für den Westbalkan entgehen. Medienberichten zufolge stehen mehr als 880 Millionen Euro an Krediten und Förderung auf dem Spiel.
“Der Kosovo gehört zur europäischen Familie – doch für die EU-Mitgliedschaft gibt es keine Abkürzungen”, warnte vorige Woche die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Bei einem Besuch in Pristina forderte die Spitzendiplomatin Kosovos Politiker zum Handeln auf; mit Blick auf den Dialog mit Serbien ebenso wie auf die EU-Hilfen. Der Kosovo brauche “funktionierende Institutionen”, so Kallas. “Daher rufe ich alle Beteiligten auf, die politischen Stillstände zu durchbrechen und schnell eine neue Regierung zu bilden, sodass der Kosovo von unserer Hilfe profitieren kann.”
Auch in der Gesellschaft macht sich Unmut breit. Am Freitag wandten sich laut dem Portal Balkan Insight mehr als 50 kosovarische Nichtregierungsorganisationen in einem Offenen Brief an die Parlamentsabgeordneten. Darin riefen sie die Parteiführer auf, Verantwortung zu übernehmen: “Untätigkeit ist keine Option.” Besondere Sorge äußerten die Unterzeichner über fehlende Kontrolle, die aus der Parlamentsblockade entstehe: “Die derzeitige Regierung, deren Mandat abgelaufen ist”, heißt es dort, “setzt die Arbeit ohne parlamentarische Aufsicht und Kontrolle fort, was für ein demokratisches Land eine inakzeptable Situation ist”.
Im Kosovo lebt die jüngste Bevölkerung Europas. Mehr als die Hälfte der Kosovaren sind unter 30, ein Drittel ist jünger als 18 Jahre. Laut Experten erschweren fehlende Jobchancen und ein veraltetes Ausbildungssystem den Zugang zum Arbeitsmarkt. Beobachter werfen den Politikern von Regierung und Opposition vor, die Nation mit ihrer Blockade abermals als Geisel zu halten.