Influencer sprechen von einer “Sucht”, bei Shein und Temu supergünstig einzukaufen. Verbraucherschützer sind alarmiert. Was machen blinkende Rabatte, Countdowns und Glücksspiele mit den Nutzern?
“Shoppen wie ein Milliardär” – das klingt verlockend. Der erst 2022 gegründete Anbieter von Ultra Fast Fashion Temu wirbt mit diesem Slogan und hat innerhalb kürzester Zeit eine massive Marktmacht aufgebaut: Bereits nach einem Jahr war er der am vierthäufigsten genutzte E-Händler für grenzüberschreitenden Onlinehandel. Verbraucherschützer sind alarmiert – sie werfen Temu vor, Kundinnen und Kunden mit willkürlich erscheinenden Rabatten, fragwürdigen Bewertungen und manipulativen Designs in die Irre zu führen.
Konkret kombiniert Temu Gewinnspiele mit Community-bildenden Elementen. Rabatt-Countdowns motivieren zum zügigen Einkauf, Glücksräder versprechen persönliche Rabatte. Was dort geschieht, nennt sich Gamification: die Übertragung von spielerischen Elementen in andere Zusammenhänge. Schüler kennen das Prinzip von Online-Lernplattformen. Punktesysteme und Abzeichen motivieren, weiterzumachen. Auch Fitness-Apps funktionieren ähnlich: Fortschritte werden verfolgt, Belohnungen winken.
Wie sich Gamification auf den Nutzer auswirkt, analysiert Wirtschaftspsychologe Gunnar Mau von der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin. Wenn Temu den Eindruck erwecke, von dem angebotenen Produkt seien nur noch Restbestände zu haben oder ein angezeigter Rabatt laufe aus, dann entstehe beim App-Nutzer das Gefühl: “Mir entgeht etwas, ich muss jetzt aktiv werden, sonst verpasse ich etwas.” Die angebliche Verknappung solle einen emotionalen Impuls setzen, um zuzuschlagen.
Push-Benachrichtigungen weisen Temu-Nutzer auf neue Rabatte hin, wenn sie einmal nicht in der App unterwegs sind. “Am Ende ist es natürlich unsere eigene Entscheidung, ob wir auf diese Erinnerungen reagieren oder nicht”, sagt Mau. “Aber wenn mich die App oft genug daran erinnert, dass ich dort etwas Tolles finden könnte, trifft es mich auch irgendwann in einer Situation, in der ich gerade Zeit habe oder mir langweilig ist oder wo ich Bestätigung suche und durch Shoppen ein positives Gefühl haben möchte.” Darauf basiere der Mechanismus: “Es entsteht das Gefühl: Jetzt musst du aktiv werden, dann wird alles gut.”
Dass viele Menschen shoppen gehen, wenn es ihnen gerade nicht so gut geht, sei völlig normal, erklärt der Wissenschaftler. Gegen diese Art der Stimmungsaufhellung, weil man sich über eine schöne neue Errungenschaft freut, sei nichts einzuwenden. Schwierig werde es allerdings, wenn man immer mehr kauft und sich nicht mehr besser fühle, wenn man etwas gekauft hat. Oft sei das Gegenteil zu beobachten: Man fühle sich schlecht und nutze das Einkaufen nur für den kurzen Kick und die Bestätigung, ein einmaliges Angebot realisiert zu haben. Dabei gehe es nicht mehr um das Produkt, das man ersteht. Das sei zwar keine behandlungsbedürftige Krankheit, für deren Entstehung viele verschiedene Faktoren zusammenkommen müssten, aber man spreche hier von kaufsüchtigem Verhalten.
Erwachsene könnten sich in der Regel selbst klarmachen, dass das, was in der App passiere, gemacht wird, um Nutzer zu manipulieren und zum Kaufen zu bringen. Um den Kreislauf kaufsüchtigen Verhaltens zu unterbrechen, helfe es, nicht sofort auf blinkende Rabatte zu reagieren. Stattdessen sei es sinnvoll, den scheinbaren Zeitdruck zu ignorieren und erst in Ruhe über den geplanten Einkauf nachzudenken: “Wir können uns sicher sein: Die allermeisten Angebote sind nicht so einmalig, dass sie nie wiederkommen.” Ziel der Apps sei es, dass Nutzer sich von ihren Gefühlen treiben und zu unüberlegten Käufen motivieren lassen. “Da kann man gegensteuern”, ist der Wirtschaftspsychologe überzeugt.
Was für Erwachsene gilt, ist für Kinder und Jugendliche deutlich schwieriger. Verbraucherschutz-Staatssekretärin Christiane Rohleder will Online-Marktplätze deshalb stärker in die Pflicht nehmen. Und auch Wirtschaftspsychologe Mau sieht den Gesetzgeber gefordert, Manipulatives zu verbieten. Frankreich ist hier schon einen Schritt weiter als Deutschland: Dort gibt es einen Gesetzentwurf, um Ultra Fast Fashion Anbieter wie Temu und Shein stärker zu regulieren. Angedacht sind neben Umweltabgaben und Konsumentenaufklärung auch Werbeverbote und Strafzahlungen bei Verstoß – auch gegenüber Influencern in den Sozialen Medien.