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Wie Alltag – nur spannender

Eine Woche lang wohnen Jugendliche in Bocholt gemeinsam im Kirchturm. Das Besondere: Das ist keine Freizeit, sondern die jungen Menschen teilen ihr Alltagsleben

„Jede Zelle meines Körpers ist glücklich“ tönt es durch das Treppenhaus. Adelina (15) und Marina (14) hüpfen die Treppe runter. Sie müssen noch Hausaufgaben machen – ein Referat gemeinsam vorbereiten.
Die beiden Mädchen gehören zu den 15 Jugendlichen, die in dieser Woche im Kirchturm der evangelischen Apostelgemeinde in Bocholt wohnen. „Wir teilen den Alltag miteinander“, sagt Adelina. „Das ist toll.“
Dahinter steht das Projekt „Wohnwoche im Turm“: Konfirmandinnen und Konfirmanden sowie etwas ältere Jugendliche leben eine Woche in den Gemeinderäumen im Kirchturm zusammen. Während der Schulzeit. Ziel ist es, die Konfirmanden in die Jugendgruppe zu integrieren. Nach 2014 und 2015 findet diese Wohnwoche zum dritten Mal statt. Im letzten Jahr war die Jugendreferentenstelle nicht besetzt.

Jugendliche fragten nach der Wohnwoche

Seit September ist Sandra van Westen auf dieser Stelle. Ihr hat die Idee dieser Wohnwoche so gut gefallen, dass sie dieses Projekt gerne wieder aufgenommen hat. „Außerdem haben einige Jugendliche nachgefragt, ob wir das machen könnten“, sagt sie.
Ihr zur Seite stehen in dieser Woche zwei ehrenamtliche Mitarbeiter. Matthias Mau (21) wurde selbst in der Gemeinde konfirmiert. In der Zeit begann er als Mitarbeiter in der Kindergruppe, inzwischen ist er bei der Jugendgruppe. Um in dieser Woche dabei zu sein, hat er seinen Resturlaub genommen.
Von Sonntag bis Sonntag verbringen die Jugendlichen eine Woche gemeinsam. Sie organisieren sich selbst – vom Schultasche packen, putzen, kochen bis hin zu Freizeitbeschäftigungen und den gemeinsamen Aktionen.
„Es ist soooo cool, ohne Eltern mit Gleichaltrigen mal Alltag zu erleben“, schwärmt Jannik. Er ist das erste Mal dabei. Bei ihm und seinem Freund Henrik steht demnächst die Konfirmation an. Momentan spielen die beiden Billard. „Heute Abend ist Konfirmandenprüfung“, erzählt Henrik. „Und ich bin echt aufgeregt. Was wenn ich etwas aufsagen muss und bleibe stecken?“ Marie beruhigt ihn: „Du kannst doch alles.“ Sie hat das bereits hinter sich. Die beiden Jungs lassen sich gern ablenken und hoffen, dass es abends rund läuft.
Als die beiden Konfirmanden  von der Wohnwoche gehört hatte, war klar, dass sie unbedingt dabei sein wollten. „Ich musste meine Eltern schon ein bisschen überreden, weil wir in der Woche zwei Arbeiten schreiben“, berichtet Henrik. Doch als sie hörten, dass es einen Raum gibt, wo Hausaufgaben gemacht werden und die Jugendreferentin darauf achtet, dass alle lernen, gaben die Eltern ihr „Okay“.
Marina hatte es da nicht ganz so leicht. „Wenn wir diese Woche eine Arbeit schreiben würden, hätten mich meine Eltern nicht teilnehmen lassen“, sagt sie. Doch zum Glück steht „nur“ ein Referat an. Das bereitet sie im „Lernraum“ mit ihrer Freundin Adelina vor.
Dort, wo nachmittags Hausaufgaben gemacht werden, wird morgens, mittags und abends auch gegessen. „Wir kochen auch zusammen“, sagt San­dra van Westen. Allerdings erst abends. Denn morgens und mittags sind nie alle zusammen. „Der erste Wecker klingelt schon um 5.30 Uhr“, sagt die Jugendreferentin. Andere können sich mehr Zeit lassen. Das Frühstück steht bereit, jeder nimmt sich, was er braucht. Mittags gibt es einen Snack.

Eltern werden auch mit einbezogen

Abends dann ein warmes Essen. „Gestern Abend hat eine Gruppe Bauerntopf gekocht, das war lecker.“ Heute gibt es Hühnerfrikassee und morgen sind die Eltern zum Grillen eingeladen. „Wir wollen die Eltern bewusst miteinbeziehen, damit sie sehen, wo ihre Kinder sind und was sie tun.“
Neben dem Gemeinschaftserlebnis ist den Mitarbeitern wichtig, dass die Jugendlichen etwas über den Glauben erfahren. „Abends gibt es immer einen Impuls“, sagt Matthias Mau. „Gestern ging es um Gaben. Darum, welche Schwächen und Stärken jeder hat. Und wie wir damit umgehen.“ Die Jungen und Mädchen waren eifrig bei der Sache. „Mein Ziel ist es zu vermitteln, dass Glaube absolut alltagstauglich ist“, sagt der Mitarbeiter.
Das kommt an. Die 15 Plätze bei der Wohnwoche waren ruckzuck voll. Es hätten noch einige Interesse gehabt. „Aber mehr als 15 Leute kriegen wir nicht unter“, sagt Sandra van Westen. Oben unter den Glocken schlafen die sieben Mädchen, ein Stockwerk darunter die acht Jungs. Ganz unten gibt es Toiletten und Waschbecken, zum Duschen müssen sie in den benachbarten Kindergarten.
„Jede Zelle meines Körpers …“ singt Marina leise, als sie mit Adelina Matratzenlager zeigt. Blümchenbettwäsche dominiert. Bei den Jungs ist es genauso ordentlich wie bei den Mädels – naja, fast. Maik öffnet die Tür und lässt sich auf sein Bett fallen. Der 16-Jährige schwärmt: „Wir sind hier raus aus dem Alltag und doch ist es Alltag – nur spannender.“
Übrigens hat das Projekt „Wohnwoche im Turm“ sogar einen Preis gewonnen. Die Bergmoser + Höller Stiftung fördert die Verbreitung der biblischen Botschaft und vergab den dritten Preis (2000 Euro) in diesem Jahr an das Bocholter Projekt.
Wieder pfeift jemand dieses Lied mit den „glücklichen Zellen“. Was ist das für ein Lied? Adelina und Marina klären auf: „Ach, das ist ein typisches Partylied.“ Nicht etwa ein christliches Lied, das sie hier gelernt haben. „Aber es passt so gut, weil wir hier so glücklich sind“, sagen die beiden und packen pfeifend ihre Schulsachen weg.