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Wer wird denn gleich in die Luft gehen…

Wut ist eine Überlebensstrategie und wichtig. Aber unverarbeitete Aggressionen können das Leben schwer machen.

Durch die Corona-Pandemie sind viele Menschen gereizter und haben eine „kurze Zündschnur“. Sabine Haupt-Scherer erklärt im Gespräch mit Karin Ilgenfritz, womit das zusammenhängt und wie man mit Wut umgehen kann. Haupt-Scherer ist Pfarrerin und Traumapädagogin im Amt der Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen.
 

Trotz der Lockerungen ist bei vielen Menschen eine Gereiztheit zu beobachten. Woher kommt das?
Sabine Haupt-Scherer: Wir Menschen werden von Emotionen und Kognitionen bestimmt. Zu den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie sagt die Kognition: Das muss sein, weil es Leben rettet. Die Emotionen erleben die Regeln als Einschränkung der eigenen Freiheit. Meist sind die Emotionen stärker ausgeprägt als das Denken. Dazu kommt, dass Menschen Verbundenheit mit anderen brauchen – und genau die war nun lange durch Corona eingeschränkt.

 
Also ist die „kurze Zündschnur“ gut nachvollziehbar…
Das Stressniveau in der Gesellschaft ist gestiegen. Manche Menschen sind in ihrer Existenz bedroht. Dann gibt es ganz unterschiedliche Einschätzungen der Gefahr von Corona, von Virusmutationen. Immer wieder ändern sich die Regeln, dazu kommen die Diskussionen um Impfungen und Impfpflicht. Daraus entstehen Konflikte, die oft sehr aggressiv ausgetragen werden.

 
Woher kommt generell die Wut?
Wut ist ein Verteidigungsimpuls und ist an sich erst mal nichts Schlechtes. Es ist eine Überlebensstrategie. Die wendet sich gegen Gleichstarke und Stärkere. Gegen Schwächere muss ich mich nicht verteidigen.
Wenn sich Aggression gegen Schwächere richtet, stehen meistens alte Opfer-Erfahrungen im Hintergrund. Wut hat oft mit Ohnmachtsgefühlen zu tun. Ein Beispiel: Ein Kind wird von seinen Eltern geschlagen. Es gibt in dieser Situation gute Gründe, wütend zu sein, das Kind würde sich gern verteidigen. Aber das ist ihm nicht möglich, es ist der Gefährdung ausgeliefert. Die wütende Regung wird „eingefroren“. In späteren Situationen kann dieses Erlebnis angetriggert werden. Etwa wenn ich auf der Autobahn im Stau stecke. Dann bin ich vielleicht auch ohnmächtig, aber überhaupt nicht gefährdet. Dann folgt ein Wutausbruch, der nicht an die aktuelle Situation angepasst ist, sondern eigentlich eine Reaktion auf das frühe Erlebnis ist.
Oder ein Beispiel aus den Corona-Einschränkungen: Wenn ich als Kind immer wieder im Keller eingesperrt wurde, dann reagiere ich auf eine Ausgangssperre anders, als jemand, der diese Erfahrung nicht hatte.
Übrigens: Trigger ist eigentlich das Wort für den Abzug am Gewehr. Gemeint ist damit ein Reiz, der wie ein Schuss eine alte Erfahrung, ein altes Gefühl auslöst.

 

Dann können Erlebnisse, die wir gar nicht vor Augen haben, zu Wutausbrüchen führen…
In der Traumapädagogik sprechen wir vom „Konzept der inneren Teile“. In einem gefährdenden Erlebnis entstehen Impulse, die in der Situation nicht umgesetzt werden können. Man will sich wehren, das geht aber nicht. Diese Wut bleibt als abgespaltener innerer Anteil. Der Punkt kann später wieder angetriggert werden in einer Situation, wo ich im Normalfall etwas ärgerlich geworden wäre, mich vielleicht zurückgezogen hätte. Aber jetzt wird dieser Anteil aktiv, der damals ums Überleben kämpfen wollte, aber nicht konnte. In der Traumapädagogik spricht man vom inneren Krieger. Da können Kinder um ein Bonbon kämpfen als ginge es um ihr Leben – völlig unverhältnismäßig.
Daraus erklären sich auch Gewaltexzesse. Wenn jemand schon am Boden liegt und der andere haut immer noch weiter auf ihn ein. Da wurde etwas Altes angetriggert, was eigentlich in einen Überlebenskampf gehört, jetzt aber völlig unverhältnismäßig ist.

 
In so einem Fall wäre dann Therapie angesagt?
Wenn jemand an so heftigen Wutausbrüchen leidet – ja. Dann stecken da vermutlich Erlebnisse dahinter, die den Menschen traumatisiert haben. Das kann man kaum allein herausfinden und bearbeiten. Da ist Therapie und die Arbeit mit den inneren Teilen hilfreich.

 
Wie kann ich meiner Wut ohne Therapie auf die Spur kommen?
Es hilft, wenn man Tagebuch schreibt über Wutgefühle und Wutausbrüche. In welchen Situationen werde ich wütend? Wenn man einige notiert hat, kann man überlegen, wo sich die Situationen ähneln. Was mich angetriggert hat.
Ich kann schauen, worum es in den Situationen ging. Etwa um Lautstärke oder, ob ich mich eingeengt gefühlt habe. Wenn ich etwas finde, überlegen: Wo in meinem Leben ist das schon mal in einer Weise aufgetreten, dass ich einen guten Grund hatte, um sauer zu sein? Wenn ich mich selbst besser verstehe, kann diese alte Wut verschwinden.

 
Wie können wir mit unserer Wut und Aggression gut umgehen?
Da möchte ich etwas ausholen und eine neue Neurobiologische Theorie von Stephen Porges aus Texas vorstellen. Wir teilen unser Nervensystem traditionell ein in den Sympathikus und Parasympathikus. Man könnte sagen in „Gas“ und „Bremse“. Der Sympathikus ist zuständig für Aktivität – auch für Flucht, Kampf und Aggression. Das andere Nervensystem, der Parasympathikus, ist zuständig für Beruhigung, Bindung, Schlaf, Erholung, aber auch für Schockstarre und Ohnmacht. Stephen Porges hat entdeckt, dass man im Parasympathikus zwei Stränge unterscheiden muss. Es gibt zwei Strategien, Stress, Angst, Wut, Flucht und Kampf zu bremsen. Das kann durch Schockstarre und Einfrieren geschehen, wie das Reptilien seit 500 Millionen Jahren tun. Oder aber so, wie es die Säugetiere vor 200 Millionen Jahren gelernt haben: mit dem vorderen Strang des Parasympathikus. Den bezeichnet Porges als das Nervensystem der Verbundenheit. Es ist auch zuständig für Stimme, Mimik, für alles was wir tun, um Kontakt aufzunehmen. Dieser Nerv der Verbundenheit fährt den Sympathikus herunter. Er hemmt Aggression.
Beziehung zu anderen Menschen, Bindung und Verbundenheit, holt uns aus dem Stress. Wenn das stark eingeschränkt ist, fehlt uns eine entscheidende Möglichkeit, Stress abzubauen.

 
Also wäre es gut, Kontakte und Beziehungen zu pflegen?
Zum Beispiel. Mittelfristig ist alles gut, was Stresshormone im Körper reduziert. Und das ist vor allem Kontakt. Zum Beispiel eine Freundin anrufen. Sich verabreden, sich einem vertrauten Menschen mitteilen. Auch körperlicher Kontakt tut gut. Aber es gibt Möglichkeiten, Verbundenheit auch auf Distanz auszudrücken: Briefe schreiben, Pakete schicken.
Eine weitere einfache Variante, Stresshormone zu reduzieren, ist Bewegung. Vor allem Ausdauersport. Das scheinen Menschen intuitiv zu spüren, sie wollen den Stress aus dem Körper kriegen. Wenn wir laufen oder spazieren gehen, sinkt der Adrenalinspiegel. In die Natur gehen stärkt den Nerv der Verbundenheit. Das reduziert Aggression.

 

Was kann ich in der Situation tun, wenn ich merke, ich werde zunehmend aggressiver?
Ich kann mich kognitiv beruhigen. Ich kann mich fragen, welcher Teil von mir ist das gerade, der da so flucht? Und warum kommt der jetzt gerade so weit nach vorn? Und welcher Teil in mir müsste sich um den wütenden Teil kümmern? Es hilft nicht, die Wut wegzusperren und zu ignorieren.
Und der andere Aspekt ist, dass wir unseren Stress herunterfahren müssen, um kognitiv wieder handlungsfähig zu werden. Wenn der Organismus so viel Stress hat, dass er das als existenzbedrohend wahrnimmt, will er die Bedrohung so schnell wie möglich abwenden. Er nutzt das Frontalhirn nicht mehr. Das ist der Teil, wo wir Ethik, Strategie und Denken haben. Das ist ein langsam arbeitender Teil, der ab einem bestimmten Stresslevel ausschaltet. Also gilt es, den Stress zu reduzieren.

 
Heißt konkret?
Damit das Frontalhirn wieder arbeitet, gibt es ein paar einfache Techniken. Zum Beispiel tief durchatmen. Ausatmung beruhigt. Das stimuliert den Parasympathikus. Ebenso einen Schluck trinken. Auch Zahlen regen das Frontalhirn an. Bei Grundschulkindern sagt man, sie sollen ruhig atmen und von zehn rückwärts zählen. Bei Erwachsenen eher in Siebener-Schritten von 70 herunterzählen.

 
Stichwort: Mir passiert ein Missgeschick – wie ist das mit Wut auf sich selbst?
Auch da hilft der Blick auf die inneren Anteile. Viele Menschen haben aufgrund ihrer Erziehungserfahrung eine innere Kritikerin, einen inneren Kritiker. Die sind unterschiedlich destruktiv. Da gibt es Stimmen, die uns im Leben sehr im Weg stehen können. Man könnte mit diesem Kritiker in einen inneren Dialog kommen und überlegen, was man dem Neues beibringen kann. Damit er nicht mehr so eine Macht hat.

 
Wie ist das mit latenter Aggression?
Dabei gibt es einen unglaublich wütenden Anteil in mir. Wenn der Stress gering ist und ich mein Leben unter Kontrolle habe, dann steht der in der dritten oder vierten Reihe. Wenn der Stress steigt, wird die Kontrolle dünner, dann kommt der wütende Anteil weiter nach vorn und zeigt sich.
Das ist unter Corona mehr geworden. Viele Menschen haben sich im Lauf des Lebens eine Struktur aufgebaut, wie sie sich gut kontrollieren können. Durch die Corona-Schutzverordnungen sind sie ihrer stabilisierenden Struktur beraubt worden.

 

Da kommt schnell die Wut auf andere. Wie gehe ich damit um?
Die eine Frage ist ja, wo gehört die Wut hin, die ich spüre? Gehört die wirklich zu dem jeweiligen Menschen? Oder wird da was altes angetriggert, mit dem der Mensch vor mir gar nichts zu tun hat?
In Therapien wird deutlich, dass manche Schwierigkeiten ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit haben. Da gibt es Eltern, die ihre Kinder vernachlässigt oder misshandelt haben. Dann lautet die Empfehlung, die Eltern zu konfrontieren. Wenn ich als 20-Jährige dann die 45-jährigen Eltern konfrontiere, ist das hilfreich. Aber eine andere Frage ist, ob es schlau ist, eine 80-Jährige im Altenheim mit so etwas zu konfrontieren. Meine Wut gehört ja nicht zu der alten Frau, die selbst so hilfsbedürftig ist, sondern zu der 45-Jährigen, die mir gegenüber so übermächtig war.
Aber ganz klar: Wut ist berechtigt, wenn meine Grenzen dauernd überschritten werden. Dann sind Grenzsetzungen legitim.

 
Warum lohnt es sich, wenn man sich selbst besser versteht?
In der Traumapädagogik spricht man vom posttraumatischen Wachstum. Das heißt, ich komme nach der Belastung wieder in einen guten Zustand. Aber es ist ein anderer als vorher. Also nicht zurück zu dem, wie es vorher war. Das wäre auch nicht sinnvoll. Nehmen wir die Corona-Zeit: Es gibt darin auch gute Erfahrungen – etwa, dass Homeoffice positive Effekte hat. Immer wieder heißt es, wir kehren zur Normalität zurück. Das vermittelt den Eindruck, es wird alles so sein wie vorher. Aber Beschädigungen bleiben, auch wenn man Dinge gut übersteht. Das ist im körperlichen Bereich das Gleiche: Nach einer OP oder einer Verletzung bleibt eine Narbe.
Da gibt es ein gutes Beispiel aus der Bibel. Die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok. Er wird angefallen am Ende, das ist eine Art Wutanfall, die er da hat. Die beiden schlagen sich, kämpfen im Fluss ums Überleben. Als es Morgen wird, beendet Jakob den Kampf und sagt: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Und er bekommt diesen Segen. Das ist der Teil des postraumatischen Wachstums. Er geht gestärkt aus der Situation hervor. Aber: Der letzte Satz heißt: Er hinkte an seiner Hüfte.
Wir können an einer Belastung wachsen, wir müssen daran nicht zerbrechen. Aber es bleiben auch Beeinträchtigungen zurück. Das darf man nicht verschweigen.

 

Informationen zu Traumapäda­gogik im Internet: www.ev-jugend-westfalen.de/handlungsfelder/traumapaedagogik.