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Wenn zwei Lippenlappen in Liebe aufeinander klappen

Der Kuss ist ein Tausendsassa. Vereinigen sich die Lippen zweier Menschen, kommt es zu einem biochemischen Feuerwerk. Doch der Kuss hat noch andere Bedeutungen: Er kann Herrschaftssignal oder Friedenszeichen sein.

Als schönste Impfung der Welt bezeichnen Krankenkassen das Küssen. Doch je nachdem, wer wen wie küsst, kann der Kuss unterschiedliche Bedeutung haben, wie der jetzt begonnene Prozess um den Kuss des spanischen Fußball-Verbandschefs für Fußball-Weltmeisterin Jennifer Hermoso zeigt. Ein kurzer Überblick in Form von Fragen und Antworten zum Valentinstag.

Der Kuss ist in der Tat ein vielfältiger Forschungsgegenstand. Kultur-, Sprach- und Geschichtswissenschaft befassen sich damit ebenso wie Sozialwissenschaft, Psychologie und medizinisch-naturwissenschaftliche Fachgebiete. Es gibt sogar einen eigenen Fachbegriff für die Wissenschaft vom Kuss: die Philematologie. Der Begriff setzt sich aus den altgriechischen Wörtern “philema” für “Kuss” und “logos” für “Lehre” zusammen.

Der Kuss ist sehr vielseitig: Es gibt den Friedenskuss, den politischen Bruderkuss, den erotischen Kuss, den zärtlichen Elternkuss, aber auch den Handkuss und den per Hand zugeworfenen Luftkuss. Der Kuss kann ein Herrschaftssymbol sein: Mit dem Fuß-Kuss verlangten Kaiser und Päpste Unterwerfung. Im Mittelalter hatte der Kuss auch rechtliche Bedeutung: Er besiegelte einen Vertrag – was sich noch heute im Verlobungs- oder Brautkuss widerspiegelt. Der Bruderkuss ist ein Symbol der Gleichheit. In den Religionen hat der Kuss eine Bedeutung als Zeichen der Ehrerbietung: Im Islam küssen Pilger bei ihrer Mekka-Wallfahrt den Schwarzen Stein der Kaaba. In der katholischen Kirche gehören der Altar-Kuss und der Kuss auf das Evangelienbuch zum Gottesdienst. Wegen der starken Symbolik kann der Kuss auch Inbegriff des Verrats werden, etwa der Judas-Kuss. Und er kann Dominanz erheischen: Seit Montag muss sich Spaniens Fußball-Verbandschef Luis Rubiales vor Gericht verantworten, weil er Fußball-Weltmeisterin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung in Sydney gegen ihren Willen auf den Mund geküsst haben soll.

Der Kuss ist eine (fast) universale Geste, die auch schon im Tierreich existiert: Nach Ansicht des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat das gegenseitige Berühren der Lippen seinen Ursprung in der Nachwuchspflege von Menschen und Tieren. Es habe sich aus dem Fütterungsritual entwickelt. Aus dieser friedvollen Eltern-Kind-Beziehung habe er sich zu einem “Zärtlichkeits- und Befriedungsritus” entwickelt. “Die Wurzel des Kusses ist der Sex”, argumentiert dagegen die Bremer Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. So “erschnüffelten” Männer, ob eine Frau ihren Eisprung habe – auch wenn das nur unbewusst registriert werde. Auch testeten Partner beim Kuss unbewusst die Gesundheit des anderen – ein chemischer Partnertest sozusagen.

“Ein Kuss ist, wenn zwei Lippenlappen / in Liebe aufeinanderklappen / und dabei ein Geräusch entsteht / als wenn die Kuh durch Matsche geht”, so beschrieb es lapidar der Dichter Gerrit Engelke vor mehr als 100 Jahren. Bei einem hingebungsvollen Kuss sind mehr als 30 Gesichtsmuskeln in Bewegung, haben Mediziner herausgefunden. Küssen lässt den Puls und die Körpertemperatur steigen. Zugleich hat die neurowissenschaftliche Forschung nachgewiesen, dass im Körper eine ganze Batterie biochemischer Prozesse in Gang gesetzt wird. Adrenalin und Glückshormone werden ausgeschüttet. Küssen steigert die sexuelle Erregung. Ein Kuss verstärkt zudem die Bindung, weil das “Kuschelhormon” Oxytocin ins Spiel kommt. Die Konzentration des Stresshormons Cortisol sinkt. Eine Studie der Humboldt-Universität Berlin ergab, dass auch kleine Formen des Körperkontakts, sei es Berührung, Umarmung oder Kuss, bis weit ins hohe Alter wichtig für das Wohlbefinden sind.

Beim Küssen kann man sich auch gefährliche Krankheitserreger wie Meningokokken oder Cytomegalieviren einfangen. “Von Mund zu Mund können während eines 10-sekündigen Kusses bis zu 80 Millionen Bakterien übertragen werden”, betonte die Krankenkasse AOK 2020, verwies aber darauf, dass die meisten völlig ungefährlich seien. Auch Kariesbakterien werden möglicherweise übertragen. Andererseits kommt das Küssen der Zahngesundheit aber auch zugute, denn es regt den Speichelfluss an, was wiederum vor Karies schützt.

Das ist umstritten. Manche anthropologischen Studien legen nahe, dass fast 90 Prozent der Weltbevölkerung sich küssen. Andere Forschung allerdings kommt zu dem Schluss, es gebe etliche Völker, die das Küssen nicht kennen, beispielsweise bei der indigenen Bevölkerung Mittelamerikas.

In Westeuropa und Nordamerika gilt es heutzutage meist nicht mehr als anstößig, sich öffentlich zu küssen. Die Franzosen pflegen sich zur Begrüßung zu küssen. Die Deutschen hingegen bevorzugen eine Umarmung. Die westliche Kusskultur des 20. Jahrhunderts ist stark vom Kino geprägt. Noch in den 1930er Jahren gab es in Hollywood einen Verhaltenskodex, der in Filmszenen “lustvolle Umarmungen” und “ausgedehnte und wollüstige Kussszenen” verbot. Dennoch galten die Küsse zwischen Vivien Leigh und Clark Gable in “Vom Winde verweht” oder von Deborah Kerr und Burt Lancaster in “Verdammt in alle Ewigkeit” lange als erotischste Küsse aller Zeiten.