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Wenn die Familie überfordert ist…

Einer der bundesweit größten Träger, der Diakonieverbund Schweicheln, überblickt 125 Jahre Jugendhilfe. Ein Gespräch über Veränderungen und neue Herausforderungen

Mit den Veränderungen der Gesellschaft wandeln sich auch die Herausforderungen für die Jugendhilfe. Ein Träger, der seit 125 Jahren auf diesem Gebiet aktiv ist, ist der Diakonieverbund Schweicheln e.V.. Der in Hiddenhausen im Kreis Herford ansässige Verein unterhält Einrichtungen an verschiedenen Standorten in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Brandenburg. Über die gegenwärtige Arbeit und über Anforderungen der Zukunft sprach Annemarie Heibrock aus Anlass des Jubiläums mit dem Vorstand des Diakonieverbundes, dem Diplom-Pädagogen Rainer Kröger, und mit der Sozialarbeiterin Michaela Cassing, die in Hiddenhausen vier vollstationäre Gruppen für Kinder und Jugendliche leitet.

• Sie überblicken durch die Geschichte des Diakonieverbundes die Entwicklung der Jugendhilfe in den vergangenen 125 Jahren. Was hat sich in dieser Zeit an den Erziehungsidealen geändert?
Kröger: Um es ganz kurz zu sagen: die Sicht auf die Kinder und Jugendlichen. Sie werden heute bei allem, was geschieht, beteiligt. Mittlerweile wissen wir: Sie haben Rechte.

• Davon wollte man bis in die 1960er Jahre sicher nichts wissen…
Kröger: Das stimmt. Allerdings wehre ich mich dagegen zu sagen: Früher war alles schlecht und heute ist alles gut. Ich gehe davon aus, dass zu allen Zeiten die Menschen in der Regel das aus ihrer Sicht Beste getan haben, genauso wie wir es heute tun. Jede Zeit hat ihre Form des Umgangs mit dem Nachwuchs. Allerdings stimmt es: Christlicher Glaube, Ordnung, Gehorsam waren früher zentrale Elemente der  Erziehung. Weil aber die Welt eine andere geworden ist, haben wir heute andere Ziele: Uns geht es vor allem um die Selbstbefähigung der Kinder und Jugendlichen, wobei wir die christlichen Wurzeln unserer Arbeit, das christliche Menschenbild, stets im Blick haben.

• Was sind aktuell die größten Probleme, von denen Sie betroffen sind?
Kröger: Die familiären Verhältnisse. Das Leben ist viel komplexer geworden. In den meisten Familien sind beide Eltern berufstätig, daneben gibt es eine große Zahl Alleinerziehender. Die Eltern wissen oftmals nicht, was ihre Kinder im Netz treiben. All das verlangt ein hohes Maß an Erziehungskompetenz, die viele Eltern leider nicht aufbringen. Deshalb muss der Staat beziehungsweise müssen wir in seinem Auftrag tätig werden.

• Noch einmal zum Stichwort Digitalisierung. Sie hat vermutlich auch den Alltag in Ihren Einrichtungen, Wohngruppen verändert…
Cassing: Allerdings. Wenn die Kinder zum Beispiel mit ihren Eltern etwa über WhatsApp Kontakt haben, obwohl sie es eigentlich nicht sollten, weil es ihnen nicht gut tut, können wir nur bedingt eingreifen. Deshalb setzen wir von vornherein auf ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Betreuern, den jugendlichen Bewohnern und ihren Eltern. Aber klar ist: Wir mussten erstmal lernen, mit diesen neuen Kommunikationsmitteln umzugehen.

• Wie handhaben Sie überhaupt den Kontakt zu den Eltern, wenn Kinder bei Ihnen untergebracht sind?
Cassing: Es gibt zwar manchmal befristete Kontaktsperren, insgesamt aber ist klar: Die besten Erfolgsaussichten, die Kinder wieder zu stabilisieren, haben wir, wenn wir die Eltern ins Boot holen.
Kröger: Man muss sich das mal vor Augen führen: Der Umzug in eine Wohngruppe ist für die jungen Menschen ein riesiger Einschnitt. Und trotz teils schlimmer Erfahrungen in der Familie ist in den meisten Kindern das Gefühl „Das sind meine Eltern“ tief verwurzelt. Auch deshalb halten wir den Kontakt zwischen Kindern und Eltern vom Grundsatz her für enorm wichtig.

• Dennoch kommt es vor, dass Neugeborene direkt aus dem Kreißsaal, durch Sie vermittelt, in Pflegefamilien gegeben werden.
Cassing: Ja, leider. Wir werden tätig, wenn das Jugendamt zuvor festgestellt hat, dass das Kindswohl in der Familie gefährdet ist und es keine andere Möglichkeit der Hilfe gibt.

• Ist die Zahl der in Obhutnahmen Neugeborener in den letzten Jahren gewachsen?
Kröger: Ja. Leider auch deshalb, weil in Zeiten, in denen die gesellschaftliche Anerkennung von Schwangerschaft wieder zugenommen hat, viele junge Mädchen und Frauen gerade darin einen Weg zur Identitätsfindung sehen, sich aber über die Konsequenzen gar nicht im Klaren sind.
Cassing: Verbreitet ist eben immer noch diese große Sehnsucht nach einer intakten Familie. Damit Eltern lernen, wie sie mit ihren Kindern umgehen und Probleme bewältigen können, bieten wir Eltern-Kinder-Wohngruppen, die rund um die Uhr betreut werden, und darüber hinaus Pflegefamilien, in deren Leben die leiblichen Eltern mit einbezogen werden.

• Hat die Tatsache, dass viele Flüchtlinge in Deutschland Schutz suchen, Einfluss auf Ihre Arbeit?
Cassing: Wir betreiben als einziger Träger im Kreis Herford eine Wohngruppe, in der unbegleitete weibliche minderjährige Flüchtlinge betreut werden. Viele der Mädchen haben eine furchtbare Geschichte hinter sich: Sie sind geflohen vor Zwangsverheiratung, Prostitution, Genitalverstümmelung, aber sie alle, und das ist das Schöne, schauen nach vorne und wollen hier ein neues Leben starten.
Kröger: Gerade darum ist ja die Arbeit mit den Flüchtlingen so lohnenswert. Damit wollen wir auch ein Zeichen gegen den Mainstream setzen, der ja inzwischen eher von Skepsis geprägt ist. Wir dagegen sehen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe darin, diese Menschen bei uns zu integrieren. Und nebenbei: Wir sind stolz darauf, Mitarbeitende mit 34 verschiedenen Staatsangehörigkeiten zu haben.

• Der Diakonieverbund leistet nicht nur Hilfe in Krisensituationen. Sie unterhalten inzwischen auch 14 Kindertagesstätten…
Kröger: …und unsere Arbeit ist damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In Zeiten, in denen die Erziehung mehr und mehr in öffentliche Hände gelegt wird, sind wir, wie auch alle anderen freien Träger, systemrelevant geworden. Alle Beteiligten werden in Zukunft noch intensiver darüber nachzudenken haben, wer welche Aufgaben in der Erziehung übernimmt, wie das Verhältnis zwischen Staat (beziehungsweise den in dessen Auftrag handelnden freien Trägern), Eltern und Kindern zu definieren ist.

• Wie sieht es mit der Personalsituation in Ihrem Bereich aus? Haben Sie Not, geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden?
Kröger: Auf jeden Fall müssen wir als Vorstand viel dafür tun, gute Rahmenbedingungen für unsere Beschäftigten zu schaffen. Zwar haben wir nicht solche Probleme wie sie in der Pflege auftreten, aber wir wollen ja nicht, dass uns künftig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren gehen. In anderen Ländern werden Erzieher bezahlt wie Lehrer. Vielleicht wäre das ein Weg. Aber da ist die Politik gefragt.
 
• Und was sind Ihre Pläne für den Diakonieverbund Schweicheln?
Kröger: Wir sind bis jetzt gut damit gefahren, unsere Arbeit flexibel und innovativ an die verschiedenen Herausforderungen anzupassen. Das möchten wir auch weiterhin tun, denn wir verstehen uns als eine Art „Trendscout“ für zukünftige Entwicklungen. Wir sind stolz darauf, dass sich unsere verschiedenen Einrichtungen auf überregionaler Ebene dabei gegenseitig befruchten.