Jürgen Wolf klickt sich durch den „Handschriftencensus“, seine Datenbank voller Schriften des Mittelalters: „Wolfenbütteler Gartentraktat“, aufbewahrt in der Herzog August Bibliothek. „Da weiß ich gar nicht, was das ist“, sagt Wolf, Germanist und Mittelalter-Spezialist in Marburg. Oder das „Gebet gegen Zahnschmerzen“. Darüber sei nur bekannt: Es gehört zu einer lateinischen Sammelhandschrift in der Universitätsbibliothek von Columbus, US-Bundesstaat Ohio. „So sehen die meisten Einträge aus“, sagt Wolf. Jemand müsste hinfahren und prüfen, was in der jeweiligen Handschrift steht.
Seit vielen Jahren erforschen Wolf und weitere Wissenschaftler deutsche Handschriften des Mittelalters. Rund 5600 Schriften haben sie in einer Datenbank zusammengefasst. Bisher aber haben sie vor allem in ihrer Freizeit am „Handschriftencensus“ gearbeitet. Doch jetzt kommt das Projekt einen großen Schritt voran: Die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur fördert den Zensus mit 6,5 Millionen Euro. In den nächsten 20 Jahren sollen so alle deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters vollständig erfasst und die bereits vorhandenen Einträge der Datenbank ergänzt werden.
Der Zensus, so die Akademie, „sichert einen bedeutenden Schatz unseres kulturellen Erbes“. Das Projekt ist am Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters in Marburg angesiedelt, Wolf leitet das Projekt gemeinsam mit Nathanael Busch von der Universität Siegen. „Wir wollen die Grundlagen legen, mit denen geforscht werden kann“, sagt Wolf. Und er will retten, was zu retten ist: 95 Prozent der deutschen Handschriften des Mittelalters existieren nicht mehr. Durch Kriege und Handel wurden die Überbleibsel über die ganze Welt verstreut, in die USA, nach England, Südafrika, Russland oder ins Baltikum, in staatliche Bibliotheken oder private Sammlungen.
„Vieles wurde im Zuge der Reformation zerstört“, erklärt Wolf. Denn in mittelalterlichen Ritterromanen und Heldengeschichten sei es oft um „sex and crime“ gegangen – das sollte mit der Reformation niemand mehr lesen. „All diese schönen Bücher sind in der Regel zerschnitten worden. Deshalb suchen wir weltweit Schnipsel.“ Und die gibt es noch. Denn Pergament war kostbares Material, man warf es nicht weg. Reste überdauer-en als Bucheinband, als Deckel für städtische Akten oder zur Verschönerung von Büchern. Erst um 1630 hätten die Leute erkannt, dass alte Bücher wertvoll sind. „Ab da wurden die alten Sachen gehegt und gepflegt“, erklärt Wolf.
Mehr als 26 000 deutsche Handschriften dürften noch existieren, einige von der Forschung unentdeckt etwa in kleinen kirchlichen Pfarreien. Mit 1450 Schriften besitzt die Bayerische Staatsbibliothek in München einen der größten Bestände. Schmuckstücke sind darunter, zum Beispiel eine Nibelungenlied-Handschrift, die zum Weltdokumentenerbe der Unesco gehört. Oder eine prachtvolle Ottheinrich-Bibel aus der Zeit um 1430. Zahlreiche Handschriften sind nach Auskunft der Bibliothek schon digitalisiert worden, die wissenschaftliche Erschließung ist weit fortgeschritten.
Wolf schnappt sich Zettel und Stift und malt Zahlen und eine Kurve, die steil ansteigt. Auf der Zeitleiste ragt das Jahr 750 heraus – in diesem Jahr entstand die älteste erhaltene deutsche Schrift: der „Abrogans“, ein lateinisch-althochdeutsches Glossar. Oder 1500: In diese Zeit fällt der Beginn des Buchdrucks und damit ein enormer Zuwachs an Büchern. Schreiber, die bisher jedes Buch von Hand kopiert hatten, mussten neue Arbeit finden. Sie verfassten nun Reiseberichte und Verwaltungssachen oder arbeiteten als Drucker. Als der Buchdruck billiger wurde, kam es schnell zu Überproduktionen. Drucker gingen pleite, wurden Buchhändler – „Medienwandel am Ende des Handschriftenzeitalters“, so nennt es Wolf knapp.
Viele Wochenenden verbrachte der Germanist mit seinem Projekt. „Es ist uns meilenweit über den Kopf gewachsen.“ Über eine Webseite können Nutzer aus aller Welt ihre Funde melden, Wolf und seine Kollegen überprüfen dann nach und nach jeden Beitrag. Die abgeschaltete Kommentarfunktion soll mit dem Geld der Akademie eventuell wieder aufleben. Die Wissenschaftler hoffen, dass auch verschollene Handschriften noch auftauchen. Zum Beispiel die Originalhandschrift des Annoliedes, vermutlich vor 1100 von einem Mönch verfasst, „das suchen alle“. Oder den Prolog des „Erec“ von Hartmann von Aue, der erste deutsche Artusroman, entstanden um 1180: „Das wäre eine Super-Sensation.“
• Projekt Handschriftencensus: www.handschriftencensus.de/; Mitteilung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur: http://www.adwmainz.de/projekte/handschriftencensus-hsc-kompetenzzentrum-deutschsprachige-handschriften-des-mittelalters/informationen.html; Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters, Marburg: https://www.uni-marburg.de/fb09/dphma/aktuelles/news/alias.2016-12-07.0823215970; Bayerische Staatsbibliothek: https://www.bsb-muenchen.de/.