Kitschige Dekoartikel, geschmacklose Weihnachtspullis, maßloser Kommerz statt Kirchgang und Besinnung – Weihnachten droht vor die Hunde zu gehen, könnte man meinen. Buchautor Gregor von Kursell glaubt das nicht.
“Früher war mehr Lametta” – wohl so mancher mag in die Weihnachtssehnsucht von Loriots Opa Hoppenstedt einstimmen. Aber war früher wirklich alles besser, schöner, heimeliger, frommer? Gregor von Kursell hat daran berechtigte Zweifel. In seinem Buch “Ein Fest mit vielen Gesichtern” räumt er auf mit falschen und zu hohen Erwartungen. Weihnachten sei sehr vielschichtig, widersprüchlich und immer im Wandel begriffen.
Ausgelassene Feiern am Jahresende gab es immer schon. Die Germanen zelebrierten dann ihr Julfest, am 25. Dezember wurde auch die Geburt des römischen Sonnengottes gefeiert. Und die Landbevölkerung nutzte die arbeitsfreien Wochen zu winterlichen Feiern, um verderbliche Vorräte aufzubrauchen. Die Christen verbanden mit Jesu Geburt die “Rückkehr des Lichts in die dunkle Welt” und legten Weihnachten auf die Feier der Wintersonnenwende. Die Menschen hätten die winterlichen Feiern jeweils mit jener Bedeutung gefüllt, die ihnen sinnvoll erschien, schreibt von Kursell.
Der Autor widerlegt auch den Irrglauben, dass Weihnachten früher immer ein frommeres Fest gewesen sei. Denn zunächst wurde dies überwiegend vom Klerus gefeiert, während die Bevölkerung ihren ausgelassenen Winterfesten frönte. Aber selbst in der Kirche ging es damals nicht unbedingt mit dem nötigen Ernst zu. So sollen ab dem 10. Jahrhundert Priester in Frauenkleidern ihren Unfug in Gotteshäusern getrieben haben. An Königshöfen hätten auch schon mal “Kunstfurzer” die weihnachtliche Feier mitgestaltet: “Die heile Weihnachtswelt, die wir in der Vergangenheit vermuten, hat es nie gegeben.”
Das familiäre Weihnachtsfest mit Bescherung am Heiligen Abend und dem Singen frommer Lieder geht auf Martin Luther zurück. Im 19. Jahrhundert tritt es seinen Siegeszug im aufgeklärten, protestantischen Bürgertum an – im Zentrum die Kinder, Musik, Geschenke und Geselligkeit. “Was dabei nicht mehr benötigt wird, ist der Besuch des Gottesdienstes”, schreibt von Kursell.
Im Laufe der Zeit ist das Fest auch immer wieder umgedeutet und politisch vereinnahmt worden. Im Deutschen Reich begeisterte man sich für alles Nordische und Germanische wie die Jul-Bräuche; im Ersten Weltkrieg wurden Christbäume mit patriotischem Schmuck verziert. Die Nationalsozialisten stellten die vermeintlich heidnisch-germanischen Wurzeln des Festes heraus.
In der Nachkriegszeit wurde in Westdeutschland der christliche Charakter des Festes wieder betont, während man in der DDR ein säkulares Winterfest anstrebte. Dennoch verweltlichte das Fest – in Ost- wie Westdeutschland, weil schon damals die Bindung an Religion und Kirche abnahm. Der Beliebtheit von Weihnachten habe das aber keinen Abbruch getan, schreibt der Autor. Noch immer sei es das beliebteste Fest des Jahres.
Das liegt für den Weihnachtsexperten auch in der Kindheit begründet. Wohl jeder wird dann in den Bann dieser Zeit voller Geheimnisse und Überraschungen gezogen. Wer später nicht mehr ans Christkind glaubt, für den verliert das Fest an Magie. Und statt im trauten Familienkreis und mit mitunter nervigen Verwandten zusammenzusitzen, möchte man lieber mit Freunden feiern. “Die früher geliebten Rituale erscheinen plötzlich sinnlos und abgeschmackt.”
In der Kritik steht Weihnachten auch als Fest übermäßigen Konsums, über den der eigentliche Sinn vergessen werde. Dabei haben sich Menschen zu allen Zeiten und in aller Welt zu bestimmten Anlässen immer wieder üppig beschenkt, um soziale Beziehungen zu festigen. Diesen Brauch deshalb grundsätzlich zu verdammen, “weil er von etwas ablenke, was die Schäfchen nicht etwa vor lauter Konsum ‘vergessen haben’, sondern was sie gar nicht mehr interessiert, das ist anmaßend”, schreibt der Autor. Kommerzialisieren lasse sich schließlich nur, was Menschen wirklich emotional anspreche, so von Kursell. Klagen über maßloses Schenken gab es seiner Recherche zufolge schon im 19. Jahrhundert.
Ebenso gab es auch schon alberne Bräuche oder gar anrüchige Traditionen. Heute mag mancher über geschmacklose Weihnachtspullis, seichte Lieder oder triviale mediale TV-Bespaßung den Kopf schütteln – all das ist für den Weihnachtsexperten keine ernsthafte Bedrohung für das Fest. “Wer nicht in die Kirche gehen mag, hat dafür andere Gründe. Kevin und der Grinch sind unschuldig.”
Trotz des Verlusts an kirchlicher Bindung – das Bedürfnis nach Spiritualität bleibt. Denn Eltern, die ihren Kindern vom Weihnachtsmann erzählen, geben ihnen nach Auffassung von Kursells jene Magie weiter, die sie selbst in jungen Jahren erlebt haben. “Menschen, die an den Geist der Weihnacht glauben, die glauben an die Liebe, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, ob mit oder ohne Gott.”
Weihnachtlicher Kitsch und Deko-Orgien sind vielen dabei ein Dorn im Auge. Menschen hätten in der dunklen Jahreszeit eben das Bedürfnis, sich einen heimeligen Rückzugsort zu schaffen, schreibt der Autor. Dies könne auch “eine legitime Auszeit von der Anspannung und den Horrormeldungen, die uns jeden Tag bedrücken” sein. “Wir müssen ab und zu hinein in diese Komfortzone, um danach wieder mit der harten Realität fertig zu werden.” Weihnachten ist für ihn ein “Tor zu diesem viel gescholtenen, aber für unsere seelische Stabilität bitter notwendigen Rückzugsort”.
Fazit: Jede und jeder kann feiern, wie er mag und wie es sich stimmig anfühlt. Aus zahllosen Traditionen, Liedern, Speisen, Dekorationen und Veranstaltungen könne sich jeder ganz pragmatisch raussuchen, was ihm Freude bereite – “alles kann, nichts muss”. Und ob man sich im Fernsehen Weihnachtsfilme oder die Christmette anschaut, Gans oder Gemüseauflauf isst, Dinge verschenkt oder es sein lässt, sich mit der Familie trifft oder mit Freunden, ob man in die Kirche geht oder in die Kneipe – das dürfe jeder getrost für sich entscheiden.
Egal, wie das Fest gefeiert wird, birgt es für von Kursell eine tiefe Botschaft: Weihnachten steht für Hoffnung – auf Erlösung, die Wiederkehr des Lichts und die erwachende Natur. Der Mensch begegne “etwas, das größer ist als wir. Etwas, das uns Kraft gibt.” Weihnachten könne deshalb helfen, Probleme leichter zu ertragen. Es biete eine kurze Verschnaufpause, “sich mal vom Alltag zu erholen mit den Ritualen, die uns teuer sind und uns einen Sinn bieten”. Weihnachten habe weiterhin eine große Kraft, “die es trotz allem noch besitzt und die umso stärker wirkt, je schwieriger die Zeiten sind”, ist von Kursell überzeugt.