Artikel teilen:

Weibliche Kunst der Nichtform

Ein Labyrinth aus dunklen Linien durchzieht die Leinwand, entfaltet sich wie ein verzerrtes Schachbrettmuster, das sich um einen zentralen Fluchtpunkt windet. Kräftiges Blau und Lila setzen Akzente. Mit ihrem 1953 entstandenen Werk „Le Vent“ wollte die in Portugal geborene Malerin Maria Helena Vieira da Silva (1908-1992) die Dynamik des Windes greifbar machen. Das Ölgemälde war bereits auf der documenta II zu sehen – da Silva war als eine der wenigen Künstlerinnen in den Jahren 1955, 1959 und 1964 bei der Weltkunstschau vertreten – und kehrt nun nach Kassel zurück.

Da Silva, die mit ihren abstrakten Bildräumen und komplexen Liniengittern in den 1950er Jahren internationale Bekanntheit erlangte, ist eine von 16 Künstlerinnen, denen die Neue Galerie vom 11. Oktober bis 26. Januar die Sonderausstellung „InformELLE Künstlerinnen der 1950er/60er-Jahre“ widmet. Sie wirft einen neuen Blick auf die informelle Kunst, die sich, wie die Leiterin der Neuen Galerie, Dorothee Gerkens, schildert, nach dem Zweiten Weltkrieg von Paris aus parallel zum Abstrakten Expressionismus in den USA zu einer der wichtigsten Kunstrichtungen Europas entwickelte. Im Rückblick erscheint diese abstrakte Strömung vor allem als männerdominierte Kunst.

Doch es gab sie, die Künstlerinnen. Mit Positionen von 14 Malerinnen und zwei Bildhauerinnen richten die Ausstellungsmacher den Fokus auf die weibliche Perspektive des Informel. Zu sehen sind Werke unter anderen von Maria Lassnig (1919-2014), Judit Reigl (1923-2020), Mary Bauermeister (1934-2023) und Roswitha Lüder, geboren 1935, die einzige von ihnen noch lebende Künstlerin. Wie die Kuratoren Roland Knieg und Ulrich Etscheit erläutern, eint sie, dass sie in den 1950er und 1960er Jahren bedeutende Ausstellungen in Deutschland hatten und damit einen wichtigen Beitrag zur Kunst des Informel leisteten.

Die 75 ausgestellten Werke machen deutlich, dass das Informel von einer Vielzahl an Gestaltungsweisen geprägt ist, die weniger einen einheitlichen Stil als vielmehr eine künstlerische Haltung repräsentieren: „Der Schaffensprozess steht im Vordergrund, wobei Farbe und Material aus gegenstandsbezogenen Formen befreit und selbst zum Gegenstand werden.“ Kunst ohne festen Kurs und starres Konzept, jedoch mit Körpereinsatz, damit Farbe höchst unkonventionell auf die Leinwand kam.

Marie-Louise von Rogister (1899-1999), die im künstlerischen Austausch mit Fritz Winter stand, schuf kleinformatige Bilder, die eine strukturelle Bearbeitung von Fläche und Raum aufweisen. Dabei trug sie die Farbe flüssig oder mit dem Spachtel auf. In ihren Arbeiten seien häufig Bezüge zur Natur sichtbar, erklärt Dorothee Gerkens. Ihre ausgestellten „Geflechtbilder“ aus Farbflächen, die von dunklen Balken und breiten Linien überlagert werden, erinnern an knorzige Äste und Stämme oder undurchdringliches Gestrüpp.

Die Bildhauerin Brigitte Meier-Denninghoff (1923-2011), die 1959 und 1964 auch auf der documenta ausstellte, schuf hingegen Skulpturen aus Metall, deren Elemente durch Löten und Schweißen zusammengefügt sind. Mit ihren zeichnerisch anmutenden, linearen Elementen scheinen sie den Raum förmlich zu durchdringen und bilden einen kühlen Kontrast zur Farbintensität der anderen Exponate.

Helen Dahm (1878-1968) wandte sich erst im Alter von 80 Jahren nach einer langen Karriere mit expressionistischen Stillleben, Landschaften und christlichen Darstellungen dem Informel zu. Der erste Flug des Sputnik-Satelliten ins Weltall 1957 markierte einen Wendepunkt in ihrer Malerei, sie begann mit fließenden Farben und pastosen Massen zu experimentieren. In Kassel sind Werke wie „Grüner Meteor“ zu sehen, die von den Kuratoren Roland Knieg und Ulrich Etscheit als „Farbexplosionen“ bezeichnet werden.

Die Kasseler Ausstellung ist auch eine Hommage an lang vergessene Künstlerinnen, die sich nicht dauerhaft im Kunstbetrieb behaupten konnten, wie Helen Dahm. Ein weiteres Beispiel ist Juana Francés (1924-1990), die einen beeindruckenden Umgang mit Farbe pflegte, die geschabt, getropft oder gekratzt wurde, und Naturmaterialien wie Sand für reliefartige Strukturen einsetzte.

So vielfältig wie die Werke sind auch die Biografien der Künstlerinnen. Die Ausstellungsmacher zeichnen ihre Lebenswege nach. Was sie verbindet, sind emanzipatorische Bestrebungen und der Wille, Freiheit in der Kunst auszuleben – intuitiv, impulsiv und spontan: „Es waren mutige, unabhängige Frauen, die ihr Ding gemacht haben, ohne auf den Kunstmarkt zu schielen.“