Wingst. Leugnen wäre möglich, ist aber zwecklos: Die Knochen tun weh, manch Muskel auch. Speziell in den Unterschenkeln zieht es und in den Oberschenkeln auch. Was kein Wunder ist, denn gestern wurde viel gewandert. Schritt für Schritt für Schritt erst in die eine, dann in die andere Richtung. Das Ziel: die Wingst. Ein Höhenzug, ein Geestrücken, eine aus der Saale-Eiszeit aufgeschobene Endmoräne, mitten im Hadelner Land, nicht weit entfernt fließt die Oste, die am Ende in die Elbe münden wird. An der Abzweigung zur Wingst wird die Entfernung nach Hamburg mit 95 Kilometern ausgewiesen, nach Cuxhaven sind es 36.
Dann ist man angekommen, geht die Molkereistraße entlang, sieht vor sich die Wingst dunkelgrün aufragen in der ansonsten so flachen Landschaft. Und rechterhand folgt der Kurpark mit Wasserspiel, der Erlebnisrundgang für Familien, auch einen Trimm-dich-Pfad wie von früher gibt es, zum Strecken und Recken; hätte man mal vorsorglich machen sollen.
Blick auf den Balksee
Die Wingst lockt mit Wald. Mit Wald und nochmals Wald. Mit Bäumen noch und noch, mit Unterholz dazwischen, so wie es dazwischen jede Menge Waldwanderwege gibt, die sechs größten sind farblich gekennzeichnet, sodass man nicht verloren gehen kann, wenn man sich an die entsprechend markierten Dreiecke hält. Der kürzeste, der gelbe, misst 6,7 Kilometer, der blaue bringt es auf 20,1 Kilometer, Blick auf den Balksee inklusive.
Nimmt man die rote Route, mitten hinein in die Wingst, geht es irgendwann am Wasserwerk vorbei den einstigen Postweg entlang. Und dann einmal links und einmal rechts gegangen, stößt man auf einen niedrigen Wall, dahinter hier und da Grabsteine, mit Steinen belegt, ein jüdischer Friedhof, erstmalig 1767 erwähnt. 175 Gräber könnten laut Berechnungen hier belegt gewesen sein, doch nur wenige Grabsteine sind erhalten und ihre Inschriften lesbar: „Ihre Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens“, „Deiner Liebe Lohn wird Gott dir geben.“
Der Jüdische Friedhof oder der Judenfriedhof, wie sie hier sagen, ist einer von 18 erhaltenen im einstigen Regierungsbezirk Stade und lag nicht immer so geschützt zwischen Bäumen. Einst war hier nichts als Heide; ein wenig Gestrüpp dazu, dort und da eine krumme Birke. Bis die im nahen Cadenberge ansässige Familie des Grafen Bremer große Teile der Wingst erwarb und diese ab dem Jahr 1820 Quadratmeter für Quadratmeter aufforsten ließ. Mit Mischwald, viel Eiche und Buche, was man nun für Natur hält, obwohl es genau genommen ein Kunstprodukt ist. Was man ruhig wissen kann, denn es macht trotzdem großen Spaß, durch den Wingst-Wald zu flanieren.
Sonderzüge zu Landgasthöfen
„Die Wingst hatte ihre beste Zeit bald nach dem Krieg und dann bis in die 1980er-Jahre“, sagt Hermann Klüver. „Die Hamburger Firmen haben Sonderzüge einsetzen lassen, um ihre Mitarbeiter in den Landgasthöfen feiern zu lassen, lange ging das.“ Klüver sitzt dem Verein der örtlichen Heimatfreunde vor, war früher Gärtner, Spezialist für Pfingstrosen. Und wollte sich eigentlich in der Wingst zur Ruhe setzen, sich auch aller Ehrenämter entledigen, aber dann hatten seine Heimatfreunde die Idee, ihn zu ihrem neuen Chef zu bestimmen.
Seitdem ist die Wingst sein Steckenpferd. Nun ruft er Horst Arp an, der fast nebenan wohnt, damit der uns das Waldmuseum zeigen kann: untergebracht in einem einstigen Klassenzimmer samt Lehrerwohnung aus dem 19. Jahrhundert, gedacht für Kinder nicht nur aus der Stadt. Doch derzeit geschlossen, man stünde zu dicht an dicht vor den Schautafeln und die ausgestellten, ausgestopften Tiere mit Desinfektionsmitteln reinigen – undenkbar.
Gemeinde betreibt Zoo
Geöffnet hat der Zoo, den man sich hier leistet. Anfangs war es ein „Babyzoo“, denn die Idee einer damaligen Tierhandlungsfirma war es, Jungtiere, die in anderen Zoos zur Welt gekommen waren und dort nicht gebraucht wurden, großzügig aufzunehmen, aufzupäppeln, dann gewinnbringend weiterzuverkaufen und sie in der Zwischenzeit den Wandertouristen vorzuführen, nach dem Motto: Baby ist immer niedlich. Aber die Sache war nicht richtig durchdacht, der Wingster Zoo ging 1994 pleite.
Die Gemeinde sprang ein, weil sonst niemand auch nur Interesse zeigte. Was sich dann doch gelohnt hat, denn jetzt präsentiert sich der Zoo in einem ansprechenden Gewand, ist zu Recht Publikumsmagnet, wenn auch vielleicht eine etwas wilde Tiermischung zu betrachten ist: Es gibt zwei Löwinnen, einen Dingo-Hund und heimische Zwergotter. Kängurus teilen sich ihr Reservat mit Kunekune-Schweinen; Flamingos ihres mit Höckergänsen. Nebenan lärmen Makaken, und auf dem Dach des Kiosks hat sich ein Storchenpaar niedergelassen.
Auf dem “Deutschen Olymp”
Fehlt noch ein Blick aufs Ganze. Also hoch zum Aussichtsturm „Deutscher Olymp“, der auf einem weiteren Hügel liegt, dafür gilt es die Straße „Am Olymp“ zu nehmen (Steigung: 18 Prozent!) und an der Kasse von Horst vom Waldmuseum grüßen.
Man begann 1860 mit einem steinernen Turm von damals sagenhaften sieben Metern, der auf den Namen „Lustturm“ hörte. Es folgte im Jahr 1900 ein Holzturm mit nun 18 Metern Höhe, schließlich wurde 1973 die Holzkonstruktion durch eine Stahlkonstruktion ersetzt, noch ein wenig erhöht und alles dem damaligen Zeitgeist gemäß schick mit Beton ummantelt. Nur ist der Aufzug im Inneren gerade stillgelegt, also heißt es, die 192 Stufen zu Fuß zu nehmen. Weshalb man oben mit einer sensationellen Aussicht belohnt wird, wenn das Wetter stimmt: Bis weit ins Kehdinger Land kann man schauen, über Buxtehude fast bis zurück nach Hamburg, und in anderer Richtung sieht man womöglich die Elbmündung und vielleicht auch die Nordsee. Und nun, sattgesehen, muss man die 192 Stufen wieder runter. Hilft ja nichts.