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Vorsitzender der Argentinischen Bischofskonferenz zur Lage im Land

Wann besucht Papst Franziskus sein Heimatland Argentinien? “Wir wissen, dass er es will und dass wir es wollen”, sagt Erzbischof Colombo. Den Bischofskonferenz-Vorsitzenden treiben allerdings derzeit andere Sorgen um.

Seit November ist Erzbischof Marcelo Daniel Colombo (63) aus Mendoza der neue Vorsitzende der Argentinischen Bischofskonferenz und damit die Stimme der katholischen Kirche im Heimatland von Papst Franziskus. Wegen seines umstrittenen Präsidenten Javier Milei und dessen wirtschaftlichen Reformkurses steht das südamerikanische Land derzeit weltweit im Fokus. Mit einem Blick auf die Politik beginnt daher das Gespräch Colombos mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

KNA: Herr Erzbischof, Präsident Javier Milei ist seit einem Jahr im Amt. Er versucht, mit knallharten Reformen das überschuldete Land zu sanieren. Wie bewerten Sie aus Ihrer Sicht die ersten zwölf Monate?

Colombo: Es war klar, dass es für diese Regierung schwierig werden würde, weil sie nicht über die parlamentarischen Mehrheiten verfügt. Trotzdem wurden Vereinbarungen getroffen, Verhandlungen geführt und Schritte unternommen, um einige Punkte wie eine Neuordnung und Deregulierung der Wirtschaft umsetzen zu können. Wir müssen allerdings auch feststellen, dass es eine überbordende, sehr aggressive politische Sprache gibt, die eine Wertschätzung für das Institutionelle vermissen lassen. Wir glauben aber, dass die Institutionen im Dienst der Demokratie und des sozialen Lebens stehen. Argentinien braucht Brücken, Konsens, Dialog. Brüche und diese ausufernde Sprache haben uns noch nie gutgetan.

KNA: Durch die Reformmaßnahmen der Regierung Milei ist die Armutsrate erst einmal spürbar angestiegen. Auch wenn sie zuletzt wieder rückläufig ist – wie können Sie die derzeitige soziale Situation in Argentinien beschreiben?

Colombo: Wir befinden uns in einer besonders schwierigen Phase für die ärmsten Gruppen der Gesellschaft, denn sie bekommen die Sparmaßnahmen am stärksten zu spüren. Ich spreche von den Rentnern, den Menschen ohne festen Arbeitsplatz, ohne Arbeit. Von jenen Menschen, die immer noch keinen Zugang zu einem Minimum an Einkommen haben. Auch Teile der Mittelschicht, die nicht über eine große Ausgaben- oder Konsumkapazität verfügen, spüren diese Härten.

Diese Politik der Anpassung – oder wenn sie so wollen der wirtschaftlichen Neuordnung – darf die soziale Perspektive nicht ausschließen. Sie muss sich auch um die Armen kümmern, die ansonsten immer mehr von der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entfremdet werden. In der vergangenen Woche wurden beispielsweise durch eine Regierungsverordnung die Menge und die Art der Medikamente drastisch reduziert, die die Sozialversicherung für Rentner denjenigen zur Verfügung stellt, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben.

KNA: Was wäre denn nötig, um die Situation vor allem in den ärmsten Gesellschaftsschichten strukturell zu verbessern?

Colombo: Einerseits braucht es Investitionen, vor allem aus dem Ausland, in Projekte, in die lokale Arbeitswelt. Andererseits sind Absprachen zwischen den politischen Akteuren erforderlich, damit die Armen nicht als Geiseln von aufeinanderfolgenden Wellen oder Regierungswechseln gehalten werden. Es muss eine umfassende, nachhaltige Politik gegen die Armut und zugunsten der Armen geben.

KNA: In Argentinien gibt es eine neue Debatte über den Umgang mit der Erinnerung an die Militärdiktatur. Opfer linker Guerillabanden fordern, dass auch diese Gewalt in den Fokus gestellt wird. Die Opfer der Militärdiktatur fürchten, dass der staatliche Terror verharmlost werden könnte. Wie sehen sie diese Debatte?

Colombo: Ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine Debatte gibt. Aber zumindest gibt es diese Frage, wie man mit der Erinnerungskultur umgeht. Die Erinnerung ist unabdingbar für die Identität eines Volkes. Die Argentinische Bischofskonferenz hat vor einigen Jahren eine kollektive Arbeit gefördert mit dem Titel “La Verdad los Hara Libres” – “Die Wahrheit wird uns frei machen.”

In den letzten Jahren haben wir das in die Praxis umgesetzt, in dem der wir die Archive der Bischofskonferenz, des Vatikans und der Apostolischen Nuntiatur den verschiedenen Akteuren in der Gesellschaft zur Verfügung gestellt haben, um die Handlungen der Kirche während dieser Zeit zu beleuchten. Für uns ist die Frage des Gedenkens daher unverzichtbar.

KNA: Wäre für eine Versöhnung nicht auch ein Gedenken an alle Opfer der Gewalt notwendig?

Colombo: Versöhnung setzt Selbstkritik voraus und die Anerkennung dessen, was man getan hat. Dies wird in der Regel nicht von allen Akteuren wahrgenommen. Besonders schmerzt uns, dass diejenigen, die an der Repression beteiligt waren, den Organisationen die Orte, an die die Verschwundenen geschickt wurden, und auch die Namen, die Namenslisten nicht zur Verfügung gestellt haben. Wir sind der Meinung, dass es für eine Versöhnung unerlässlich ist, zuerst die Wahrheit zu erfahren.

Natürlich gibt es viele unschuldige Tote, Menschen, die unter den Überfällen und Angriffen gelitten haben, und man kann nicht umhin, mit den Angehörigen den Schmerz über das Geschehene zu fühlen. Und ich glaube, dass in dem Maße, in dem der historischen Rekonstruktion dieser Ereignisse Raum gegeben wird, auch die Möglichkeit einer besseren geistigen Aufarbeitung besteht.

KNA: Die Europäische Union und das südamerikanische Handelsbündnis Mercosur haben die Verhandlungen über das gemeinsame Handelsabkommen abgeschlossen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Colombo: Ich glaube, dass alles, was den Handel zwischen Europa und Lateinamerika fördert, willkommen ist. Wir haben auf beiden Seiten Zoll- oder Tarifschranken. Und das erfordert noch einen Dialog, der wahrscheinlich länger dauert, als wir denken. Wichtig ist eine Haltung der Offenheit, die auch gegenseitigen Nutzen ermöglicht, so dass es dann auf beiden Seiten des Abkommens Wachstum geben kann und nicht nur eine Region oder ein Land bevorzugt wird.

KNA: Wann kommt Papst Franziskus endlich nach Argentinien?

Colombo: Die Wahrheit ist, dass ich das auch nicht weiß. Wir wissen, dass er es will und dass wir es wollen. Wir wissen auch, dass der Terminkalender für das Jahr 2025 wegen des Heilgein Jahres und natürlich wegen seiner eigenen anstehenden Besuche sehr voll ist. Denn es steht nicht nur Argentinien an, sondern auch der Besuch anderer Regionen. Aber Argentinien ist seine Heimat. Ein Besuch seiner Heimat ist sein Wunsch, und wir glauben, dass er ihn erfüllen wird, sobald er kann.

KNA: Vor wenigen Tagen wurde im Vatikan des 40. Jahrestags des Friedensvertrags zwischen Argentinien und Chile gedacht – ohne einen ranghohen Vertreter Argentiniens. Was kann man aus diesem Vertrag heute noch lernen?

Colombo: Durch das Eingreifen des heiligen Johannes Paul II. wurde ein Krieg vermieden. Und wir glauben, dass wir Argentinier als Volk dazu berufen sind, den Frieden zu fördern. Unser Land ist aus einer großen Migrationswelle hervorgegangen. Deshalb liegt es in unserer DNA, Menschen anderer Völker als Brüder und Schwestern aufzunehmen. Das ändert nichts an der Notwendigkeit einer vernünftigeren Migrationspolitik mit klareren Kriterien, aber vor allem der Aufnahme von Migranten und der Entwicklung eines Dialogs mit Ländern, der nicht auf Konfrontation beruht. Diese Einteilung in Gut und Böse passt nicht zu einer zivilisierten Welt, in der wir alle dazu berufen sind, Brüder und Schwestern zu sein.