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Vor 80 Jahren – Offensive der sowjetischen Armee in Ostpreußen

Herbst 1944: Nazideutschland wankt unter den Schlägen der Alliierten. Aber Aufgeben ist für Adolf Hitler keine Option. Stattdessen läuft Propagandaminister Joseph Goebbels noch einmal zu großer Form auf.

Ostpreußen – das ist heute ein Begriff aus einer anderen Welt. Städte wie Memel, Königsberg oder Marienburg heißen Klaipeda, Kaliningrad oder Malbork und gehören schon lange nicht mehr zu Deutschland, sondern zu Litauen, Russland oder Polen. Die moderne politische Ordnung ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs, der vor 80 Jahren in seine entscheidende Phase trat.

Im Westen hatten die Alliierten im Juni 1944 ihre Invasion in der Normandie gestartet. Mindestens ebenso bedeutsam für den Sieg über die deutschen Truppen war die kurz darauf gestartete “Operation Bagration” der sowjetischen Roten Armee an der Ostfront. Die Wehrmacht verlor dabei mindestens 250.000 Soldaten, mehr als im Winter 1942/43 bei der Schlacht von Stalingrad.

Trotzdem setzte das NS-Regime den Kampf fort – gegen jeden gesunden Menschenverstand und wider alle politische und militärische Logik. Warum kam es so weit? Diese Frage hat sich der britische Historiker Ian Kershaw in seinem Buch “Das Ende. Kampf bis in den Untergang” gestellt. Eine Antwort führt in den kleinen Ort namens Nemmersdorf (Majakowskoje) und in den Herbst 1944.

“Am 16. Oktober begann die Rote Armee ihren Angriff auf Ostpreußen unter einem Sperrfeuer von Artilleriebeschuss auf einem 40 Kilometer langen Frontabschnitt und intensiven Luftangriffen auf Grenzstädte”, schreibt Kershaw. Von der deutschen Luftwaffe kam so gut wie keine Gegenwehr, die deutsche Armee musste sich nach Westen zurückziehen. Am 21. Oktober drangen Sowjetsoldaten bis in das kleine Dorf Nemmersdorf vor. Dort allerdings kam die Offensive ins Stocken. Der Wehrmacht gelang es unter großen Verlusten in der “ersten Schlacht um Ostpreußen”, die Sowjets noch einmal zurückzudrängen.

Den Deutschen boten sich Bilder des Grauens. Was genau sich in Nemmersdorf und den umliegenden Orten abgespielt hatte, ist laut Kershaw nach wie vor unklar. Berichte machten die Runde von nackten Frauen, die man in Kruzifixstellung mit Händen an Scheunentore genagelt hatte. Ein MG-Schütze sprach in einem Tagebucheintrag von “dahingemetzelten Menschen”, deren Anblick so grausam gewesen sei, “daß einige unserer Rekruten in Panik fortrannten und sich übergeben mußten”. Die Geheime Feldpolizei zählte 26 Leichen, überwiegend ältere Männer, Frauen und einige Kinder.

Propagandaminister Joseph Goebbels witterte eine Gelegenheit, aus den Untaten Kapital zu schlagen, um den Durchhaltewillen der eigenen Bevölkerung hochzuhalten. Die gleichgeschaltete Presse überbot sich in Horrorgeschichten über “Das Wüten der sowjetischen Bestien”. Die Botschaft fiel offenbar auf fruchtbaren Boden. “Das sind keine Soldaten mehr, sondern das sind Tiere gewesen”, erinnerte sich Jahrzehnte später der ehemalige Wehrmachtssoldat Fritz Busse. Nemmersdorf sei für die Truppe der Ansporn gewesen, “noch wütender zu sein”. Der Krieg sollte letzten Endes erst im Mai 1945 enden.

Die Propaganda leistete auch auf der gegnerischen Seite ganze Arbeit. “Tötet. Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist”, bekamen Stalins Soldaten eingehämmert. “Zahlt ihnen für das Blut und die Tränen sowjetischer Mütter und Kinder heim.” General Heinz Guderian, der zu denen gehörte, die in der Nachkriegszeit das Bild von der angeblich “sauberen Wehrmacht” prägten, hielt fest: Was sich in Ostpreußen ereignet habe, “gab dem deutschen Volk einen Vorgeschmack dessen, was ihm im Falle eines russischen Sieges bevorstand”.

Die monströsen Verbrechen, die die Deutschen bei ihrem rassistischen Weltanschauungskampf mit der Sowjetunion und vorher schon bei ihrem Überfall auf Polen begangen hatten, fielen nun auf sie zurück. Ein Chaos aus Durchhaltebefehlen und viel zu späten Evakuierungen brachten zusätzliches Leid über die Zivilbevölkerung. Ostpreußen: Das sind auch die Flüchtlingstrecks Richtung Westen bei eisigen Temperaturen im Januar 1945 und der Untergang des mit mehreren Tausend Passagieren völlig überfüllten Dampfers “Wilhelm Gustloff”.

In rechten Kreisen ist “Nemmersdorf” bis in die Gegenwart eine Chiffre gegen einen vermeintlichen “Schuldkult”. Im Jahr 2006 sperrte sich die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag gegen eine Reise von Parlamentariern in das ehemalige NS- Konzentrationslager Auschwitz. “Sollten sich die etablierten Parteien dazu durchringen können, in Nemmersdorf oder einem ähnlich symbolischen Ort auch an die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung zu gedenken, sind wir bereit, über eine gemeinsame Gedenkveranstaltung des Landtages nachzudenken.”

Im vergangenen Jahr bewarb der Dresdner Verlag “Hydra Comics” eine “Graphic Novel” namens “Oktober “44: Die Befreiung von Nemmersdorf”. “Mit der Darstellung der verdrängten Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht unserer deutschen Großeltern und Urgroßeltern” wolle man eine “Geschichtslücke der bundesdeutschen Erinnerungskultur” schließen, hieß es. Die weitere Inhaltsbeschreibung legt nahe, dass mit Blick auf die Verbrechen des NS-Regimes bei dem neurechten Verlag ganz andere Erinnerungslücken klaffen.