Von Januar bis April 1945 währte die Schlacht um Ostpreußen. Sie zeigte vor allem eines: das brutale Gesicht des Krieges. Hier die Menschenverachtung des NS-Regimes, dort der Vergeltungswillen der Roten Armee.
Kurz vor dem Untergang wurde es noch einmal ruhig in Ostpreußen. “Die Front war still. Und das Land war still”, beschreibt Arno Surminski die gespenstische Atmosphäre im äußersten Nordosten des Reichs in jenem letzten Kriegswinter 1944. “Der Friede war so vollkommen, dass einige Flüchtlinge zur Grenze zurückkehrten”, heißt es in Surminskis autobiographisch gefärbtem Roman “Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?”
Am 13. Januar 1945, vor 80 Jahren, sollte diese kurze Atempause enden. Heftiges Trommelfeuer kündigte am Morgen den Beginn einer sowjetischen Offensive an. Noch im Herbst hatten die deutschen Verteidiger den Ansturm der Roten Armee zurückschlagen können. Nun aber brachen bald die Dämme – allen Durchhaltebefehlen von Adolf Hitler und seinen Schergen zum Trotz. Laut Militärhistoriker Richard Lakowski warf Stalin fast 1,7 Millionen Mann, Abertausende Geschütze und Panzer sowie mehr als 3.000 Flugzeuge in die Schlacht um Ostpreußen.
“Es bedurfte keines schnurrenden Weckers am Morgen des 13. Januar”, so Surminski. “Das Wecken aller Schulkinder von Masuren bis an die Memel besorgte die russische Artillerie. Sie rollte mit ihrem Donner im Nordosten auf Tilsit, Gumbinnen und Insterburg zu. Das waren keine Einzelabschüsse, sondern ein gleichmäßiges Grummeln, das die Fensterscheiben sachte vibrieren ließ.” Als erste bis dahin deutsche Stadt fiel am 20. Januar Tilsit, das heute russische Sowetsk an der Grenze zu Litauen.
Als die sowjetischen Truppen das Reichsgebiet erreichten, “sahen sie sich als Rächer”, fasst der britische Historiker Ian Kershaw das nun folgende Grauen zusammen. Während ihres Vernichtungsfeldzuges im Osten hätten die Deutschen sowjetische Städte und Dörfer verwüstet und unschuldige Zivilisten abgeschlachtet. Nun zahlten es ihnen die Soldaten der Roten Armee heim. “Sie drangen durch das Land derjenigen vor, die ihnen solches Elend zugefügt hatten, und dabei vergewaltigten, plünderten und mordeten sie”, so Kershaw.
“Drei Soldaten standen vor meinem Bett, der eine von ihnen hielt mir eine Pistole vor, ich sollte ins andere Zimmer mitkommen”, erinnerte sich die damals 18-jährige Ostpreußin Hildegard Rauschenbach. “Ja – so schieß doch endlich”, habe sie leise gewimmert. Daraufhin sei ihre Mutter vor den Soldaten, um Gnade flehend, auf die Knie gefallen. “Die Soldaten lachten. ‘Hildchen, Hildchen!’, rief sie. ‘Mach uns nicht noch mehr unglücklich, einmal wird alles vorbei sein, wenn es noch einen Gott gibt. Bitte, bitte, geh!’ Ich ging.”
Im Angesicht des nahenden Endes zeigte auch das NS-Regime im ehemaligen “Mustergau” Ostpreußen noch einmal seine ganze Brutalität und Menschenverachtung. Das Massaker im Samland, eines der letzten Verbrechen dieser Art an Juden im Zweiten Weltkrieg, ist dafür nur das erschütterndste Beispiel. Ende Januar löste die SS die Außenlager des Konzentrationslagers Stutthof auf und schickte die Insassen auf Todesmärsche zunächst Richtung Königsberg, das heutige Kaliningrad. Von dort ging es weiter nach Palmnicken. Allein auf diesen letzten 50 Kilometern erschossen die Wachmannschaften bis zu 2.500 Frauen und Männer.
Die verbliebenen rund 3.000 Häftlinge ließ man entlang der vereisten Ostseeküste weiter Richtung Süden marschieren, schreibt Historiker Andreas Kossert. “Die SS-Schützen rollten die weit auseinandergezogene Kolonne von hinten auf, trennten jeweils die letzte Gruppe ab und jagten sie unter Maschinengewehrfeuer auf das Eis und ins Wasser.”
Zu den wenigen Überlebenden gehörte die russische Jüdin Pnina (Pola) Kronisch. Sie habe nicht gewartet, bis die Deutschen sie ins Meer stießen, “ich warf mich selbst hinunter und blieb am Rande einer Eisscholle liegen”, berichtete sie später. “Die Deutschen glaubten, ich sei eine Tote, und da ich, zu meinem Glück, allein war und die letzte in der Reihe der zur Ermordung Bestimmten, setzten sich die Deutschen in einen Schlitten und fuhren ab.”
Unterdessen zog die Rote Armee ihre Schlinge um Ostpreußen immer enger. Wer Glück hatte, konnte in den ersten Tagen der Invasion mit dem Zug Richtung Westen fliehen. Als die Verbindungen ab dem 23. Januar gekappt wurden, blieben nur noch Schiffe – oder der Weg über das zugefrorene Haff zur Frischen Nehrung und weiter Richtung Danzig. Kolonnenweise, in Trecks, versuchten verzweifelte Frauen, Kinder und Männer sich bei eisigen Temperaturen von minus 20 Grad irgendwie in Sicherheit zu bringen.