Mehr als 34 Millionen Menschen in Deutschland spielen Computer- und Videospiele. Längst gibt es neben „Ballerspielen“ auch sogenannte „Serious Games“ – also pädagogisch wertvolle Spiele. Außerdem im Kommen: „Death Positivity Games“.
Aline spielt für ihr Leben gern. Seit ihrer Kindheit liebt die 30-Jährige Computer- und Videospiele. Die Social-Media-Managerin aus Stadtallendorf in der Nähe von Marburg lenkt sich mit den Spielen gerne ab. An den Wochenenden sitzt sie manchmal Stunden vorm Bildschirm, manchmal auch nachts.
Ihre Favoriten sind „Ego-Shooter“, also Spiele, bei denen Spieler die Perspektive der von ihnen gesteuerten Figur einnehmen, die sich einen bewaffneten Kampf mit einem Gegner liefern. Aline mag aber auch SportGames wie das Fußballspiel „FIFA“ und entscheidungsbasierte Spiele. Besonders Letzteres fordert den Userinnen und Usern einiges ab: Immer wieder müssen sie flink entscheiden, was zu tun ist – und mit möglichen Konsequenzen leben. „Ich denke, das ist etwas, das man in seinem Leben gut einbringen kann“, ist die begeisterte Spielerin überzeugt.
Nicht nur Gewalt und Suchtgefahr, auch Kultur
Nach wie vor haben PC- und Videospiele manchmal einen etwas angeschlagenen Ruf. Man denke etwa an „Ballerspiele“, die vor allem nach diverser Amokläufe weltweit aber auch innerhalb Deutschlands in Verruf geraten waren. Zu Recht. Denn tatsächlich geht es bei einigen Spielen um nichts als stumpfe Gewalt, Blut, Gemetzel, Macht. Jugendschützer warnen zudem vor dem hohen Suchtpotenzial, Kinderärzte raten zum Computerspielen mit Augenmaß: Das übermäßige Spielen führe zu Konzentrationsdefiziten, Schulleistungs- und Schlafstörungen und auch zu Depressionen.
Aber: Es gibt eben auch die andere Seite. Computerspiele sind vom Deutschen Kulturrat seit Jahren als „Kulturgut“ anerkannt. Seit 2012 gibt es die Stiftung der deutschen Games-Branche, die nach eigenen Angaben Brücken bauen will zwischen der Welt der digitalen Spiele und den gesellschaftlichen und politischen Institutionen in Deutschland.
„Serious Games“ setzen sich durch. Das sind Spiele, die nicht nur Spaß machen, sondern auch informativ und lehrreich sind. So beschreibt es der Verband der deutschen Games-Branche. Von dort kommen auch die aktuellen Zahlen: Nach dem starken Wachstum im Corona-Jahr 2020 stieg das Interesse am Gaming in Deutschland auch im Jahr 2021 weiter an. So griffen sechs von zehn der Deutschen (59 Prozent) im Alter von 6 bis 69 Jahren auf PC-, Konsolen- oder Mobile Spiele zurück.
Weiterhin interessant: Die Gamerinnen und Gamer werden älter. Laut Kaufmännischer Krankenkasse (KKH) verfallen immer mehr ältere Menschen dem Reiz digitaler Spiele aufgrund einer wiederentdeckten Leidenschaft. Die Generation über 50 sei bei der Geburtsstunde der PC-Spiele in den 1980er Jahren „am Drücker“ gewesen. „Haben sich die sogenannten Silver-Gamer erst einmal mit der heutigen Technik vertraut gemacht, sind gerade sie es, die gar nicht mehr aufhören wollen zu zocken.“
Und weiblicher wird die Szene auch: Neben Aline sind immer mehr Frauen Gamerinnen, wie eine Studie des Dienstleisters für Unternehmens- und Strategieberatung Accenture zeigt. Demnach machen Frauen mittlerweile mit 46 Prozent einen fast genauso großen Anteil an der Gaming-Community aus, wie Männer (52 Prozent).
Die Gaming-Branche ist im Aufbruch. Es gibt kaum ein Thema, das nicht aufgegriffen wird. Auch in der Therapie werden bestimmte Spiele eingesetzt. Zum Beispiel im Gesundheitsbereich: Im 3-D-Shooter-Spiel „Re-Mission“ etwa schießen krebskranke Kinder und Jugendliche mit Medikamenten böse Krebszellen ab.
Auch Tod und Trauer sind aus der Spieleszene nicht mehr wegzudenken, weiß der Kulturwissenschaftler Arno Görgen, selbst passionierter Spieler. Er ist überzeugt: Einige Computerspiele können für junge, aber auch ältere Menschen ein wichtiger Bestandteil bei der Trauerbewältigung sein.
„Schon das Sprechen über den Tod, die Reflexion darüber, kann hilfreich sein“, sagt der Forscher der Hochschule der Künste Bern. Als Beispiele für sogenannte „Death Positivity Games“ nennt der Forscher das Spiel „A Mortician’s Tale“. In dem 2017 veröffentlichten Spiel erleben die User den Alltag einer Bestatterin, die neu im Job ist. Die Spielerinnen und Spieler lernen die verschiedenen Arten von Trauer kennen und wie mit den leblosen Körpern umgegangen wird.
Das Spiel sei keine Totenschau, sondern überaus empathisch, urteilt der Experte, der selbst den Tod seines Vaters vergangenen Jahres auch mithilfe von Computerspielen verarbeiten konnte, wie er erzählt. Als weitere Beispiele aus dem Bereich nennt der oben bereits vorgestellte Verband der deutschen Gaming-Szene auf Anfrage: „Spiritfarer“, „The Graveyard“ oder „Fragments of him“.
Ein Beispiel für ein rein kommerzielles Videospiel, in dem Tod und Trauer etwas weniger offensichtlich auftauchten, ist nach Aussage von Görgen das Action-Videospiel ,„Guardians of the Galaxy“ zum gleichnamigen US-amerikanischen Film aus dem Jahr 2014. Neben viel Spaß gehe es auch hier um den Verlust einer geliebten Person. Über die Kommunikation der einzelnen Charaktere könne sich der oder die Spielerin mit Personen identifizieren und setze sich mit Sterben und Trauer auseinander.
Spiele können Tabus durchbrechen
„Die ‚Death Positivity Games‘ holen den Tod aus der Schmuddelecke heraus“, erklärt Görgen. „Ein großer Vorwurf an Westeuropa ist ja, dass der Tod stigmatisiert wird, die Kranken in Krankenhäuser und Heime abgeschoben werden. Da wollen die Spiele entgegenwirken.“
Natürlich könnten Spiele immer nur ein Teil im Trauerprozess sein, möchte Görgen betonen. Eltern rät der Kulturhistoriker auf jeden Fall, mit ihren Kindern über die Spiele ins Gespräch zu kommen. Ihr Spielverhalten nicht akribisch zu kontrollieren, aber die erlebten Dinge zu reflektieren.
Die Themen Tod und Trauer werden auch in Zukunft beliebt in der Branche sein, meint Görgen, der bereits ein Buch über Krankheiten in digitalen Spielen geschrieben hat. Viele Spiele seien derzeit in der Entwicklung – aber: „Leider ist die Szene groß und Infos oder ein allgemeiner Überblick schwer zu bekommen.“ Außerdem stünden „Serious Games“ nicht so in der Öffentlichkeit, nicht immer erfahre man von neuen Spielen.
Für therapeutische Zwecke werden PC- und Videospiele aktuell eher in den USA genutzt. Dort genauso wie in Japan sei die Spielekultur deutlich ausgeprägter als in Deutschland und habe eine viel längere Tradition, sagt Görgen.