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Von der Mutterschößigkeit Gottes

Altes und Neues Testament sind sich einig: Barmherzigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes. Um die Vielfalt dieser Zuwendung auszudrücken, verwendet sie eine ganze Reihe von Begriffen

Gott ist barmherzig, und darum soll auch der Mensch barmherzig sein. Dieser Zusammenhang ist im Alten wie im Neuen Testament glasklar. Was Menschen von Gott geschenkt wird – verlässliche Zuwendung und Liebe, die stärker ist als Verrat und Sünde – sollen sie weitergeben. Wer das nicht tut, verstößt gegen Gottes Willen.
Das Begriffsfeld Barmherzigkeit ist weit gesteckt in der Bibel. Schon im AT gibt es mehrere Begriffe dafür. Häufig ist etwa das Wort häsäd, das ein weites Bedeutungsfeld hat und mit Güte, Gnade bis hin zu Treue übersetzt werden kann.
Einen anderen Aspekt der Barmherzigkeit betont der Begriff rachamim. Er stammt aus demselben Wortfeld wie rächäm, was Gebärmutter bedeutet. Die Theologin Sylvia Schroer übersetzt daher mit „Mutterschößigkeit Gottes“: ein umfassender, ganzheitlicher, zutiefst empathischer Blick auf die Menschen mit ihrer Individualität, ihren Bedürfnissen und Fehlern.
Die weibliche Herkunft von rachamim heißt aber nicht, dass Barmherzigkeit ein spezifisch weibliches Verhalten wäre, nach dem Motto: Frauen sind ja sowieso für die „weichen“ Aspekte in Beziehungen wie Empathie, Mitleid, Verzeihen zuständig. Nein, Barmherzigkeit wird von beiden Geschlechtern gleichermaßen gefordert; sie zählt sogar zu den Forderungen, die an einen idealen König gestellt werden (etwa in Psalm 73,1).
Auch neutestamentliche Autoren benutzen verschiedene Begriffe, um die Vielfalt der Barmherzigkeit darzustellen. Dazu gehört etwa eleos, von dem sich der Ruf „Kyrie eleison“ ableitet. Thomas Söding, katholischer Neutestamentler aus Bochum, teilt so ein: „Eleos fokussiert die Emotion: Mitleid haben, sich anrühren lassen, Anteil nehmen. Splangchnon markiert den Ort dieser Bewegung: das Herz, das Innerste, wo die Großherzigkeit, die Herzlichkeit, die Herzensgüte zuhause sind. Oiktirmos akzentuiert die Expression des Erbarmens in Wort und Tat: Mitgefühl zeigen, Trost spenden, Hilfe leisten.“
Genau abgrenzen lassen sich die Wortfelder nicht. Die katholische Theologin Alice M. Sinnott hat dafür ein schönes Bild gefunden: Wie Fäden in einem Gewebe, so sind Barmherzigkeit, Liebe, Gnade, Treue in Gottes Wesen eingewoben.
Wie schon im Alten, so ist auch für die Autoren des Neuen Testaments klar: Menschliche Barmherzigkeit ist immer eine Reaktion auf die erfahrene göttliche Barmherzigkeit – siehe die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lukas 15). Und in Jesus hat diese göttliche Zuwendung ihren Höhepunkt erreicht. Die Taten Jesu sind immer wieder Ausdruck von Barmherzigkeit in einer konkreten Situation: Er heilt Kranke, vergibt Schuld, wendet sich den Ausgegrenzten zu. In den Lobgesängen der Maria und des Zacharias wird das Kommen Jesu als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes gepriesen (Lk 1,54 und 1,78).