Vom “Maschinenwahnsinn” zu Mistgabel und Menschlichkeit: Eine ehemalige Intensivpflegerin tauscht Klinik gegen Schafstall. Ihre Geschichte steht für viele, die aus dem Pflegesystem aussteigen möchten.
Stefanie trillert mit ihrer Zunge, und schon springt Jo über den Elektrozaun. “Go away, Jo”, ruft sie. Die 49-Jährige und ihr Hütehund, ein Border Collie aus Belgien, stehen an einem Hang im Bergischen Land, nahe der Stadt Velbert, irgendwo zwischen Düsseldorf und Wuppertal. Als Jo den Hang herunterläuft, setzt sich eine Herde von rund 15 Schafen in Bewegung.
Bevor Stefanie Lamberti Schäferin geworden ist, war sie viele Jahre Intensivkrankenschwester. Unter dem Druck im Krankenhaus stumpfte sie ab, berichtet die heutige Landwirtin. Sie spricht von einem “Maschinenwahnsinn”. Davon, dass es gar nicht um ein gutes Lebensende der Menschen ging, dass man ihnen hilft, sich mit dem Tod anzufreunden, wenn er abzusehen ist. Stattdessen: “5.000 Medikamente, alles ist austauschbar, es geht nur noch darum, dass ich 105 werde.” Stefanie entscheidet, auszusteigen, kauft mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen den Hof. Im Krankenhaus arbeitet sie fortan nur noch in Teilzeit.
Inzwischen stehen die Schafe mit der Nase vor Stefanies Hirtenstab, mit dem sie verloren gegangene oder kranke Tiere einfängt. “Alle nackelig” – die Tiere wurden vor kurzem von der Deutschen Meisterin an der Handschere, Karlin Bünting, geschoren. Sie zittern. “Die Kälte kann für die Tiere lebensgefährlich sein”, erklärt Stefanie. Deshalb entschließt sie sich kurzerhand, dass die Tiere im Laufe des Nachmittags zurück in den Stall getrieben werden.
Flexibilität, je nach Wetter und Gesundheit der Schafe, gehören zu ihrem Alltag dazu, so wie auch ständige Anrufe. Seitdem Stefanie auf dem Hof angekommen ist, ist eine Stunde vergangen, und sie hat schon mit drei verschiedenen Menschen telefoniert – einem Kunden, ihrem Sohn und einem Tierarzt.
Zurück in einem Nebenhaus des Hofes erzählt die 49-Jährige, wieso sie sich für das einfache Leben als Schäferin entschieden hat. Während die Karottenscheiben in den Futtertrog fallen, sagt sie: “Es geht mir nicht darum, dauernd etwas zu leisten, denn durch meinen Glauben weiß ich, dass ich auch geliebt bin, wenn ich nichts leiste.” Deshalb sei ihr auch nicht wichtig, dass ihre Kinder perfekte Noten bekommen. “Viel wichtiger ist mir, dass wir als Familie zusammenhalten, wir empathisch sind.” Jeden Tag erlebe sie die Ruhe des Hofes, das Zwitschern der Vögel. Ein Stückchen Achtsamkeit und das Gegenteil des Piepens und Schreiens auf der Intensivstation.
Einmal die Woche, dienstags und an einem Wochenende im Monat, hält sie aber noch die Hand von Schwerkranken. “Seitdem ich nur noch Teilzeit arbeite, kümmere ich mich um die besonders Pflegebedürftigen. Ich nehme mir die Zeit, die aus meiner Sicht jeder Mensch, der im Krankenhaus liegt, verdient hätte.” Dann koche sie eine extra Tasse Tee, streichle die Hand, bringe ein Stückchen Menschlichkeit auf die Intensivstation, für die für viele Vollzeitpflegekräfte fast keine Zeit bleibe.
Unter anderem, weil Studien zufolge der Pflegenotstand auf Intensivstationen hoch ist. 2020 gab es rund 21.000 mit Patienten belegte Intensivkrankenbetten in Deutschland. Für diese waren im selben Jahr im Schnitt 28.000 Vollzeitkräfte verantwortlich. Um eine gute Pflege dieser Patienten sicherzustellen, hat das Bundesministerium 2018 eine Verordnung erlassen, die für ein Intensivbett wenigstens zwei Pflegekräfte vorsieht. Berechnungen der arbeitnehmerfreundlichen Hans-Böckler-Stiftung ergeben, dass 2020 auf Intensivstationen fast 23.000 Pflegekräfte fehlten. Legt man höhere Standards zugrunde, fehlten sogar 50.000. Stefanie entfloh einem System, das seine Mitarbeiter an ihre äußersten Grenzen treibt.
Zurück bei den Schafen auf dem Hof steht Stefanie mit einer Mistgabel vor einem großen Heuhaufen. Ihr Geld verdient sie vor allem damit, ihre Schafe auf Grünflächen im Bergischen Land weiden zu lassen. Verträge mit den Gemeinden erlauben ihr ein kleines, aber stabiles Einkommen – die Schafe sind die Landschafts-Pfleger. Nebenbei verdient sie noch etwas mit Fleisch und Wolle dazu. Ohne die Verträge sei es schwierig gewesen, weil der direkte Verkauf der Biowaren zu unregelmäßig war und der mit der Haltung und sorgfältigen Schlachtung verbundene Preis nur wenigen Kunden zu vermitteln war.
Zu dem Blöken der Mutterschafe und dem hellen Mähen der neugeborenen Lämmer seufzt Stefanie kurz. Der Blick auf das zugekaufte Futter erinnert sie daran, wie sehr ihnen der Klimawandel zu schaffen macht. Zum einen müsse sie immer mehr Wasser in großen Kanistern auf die Felder bringen, was ihr körperlich zu schaffen macht. Schwache Schafe litten zudem zusätzlich darunter, dass sich das Wasser nicht wie nach einem Regen frei auf den Feldern verteilt. So müssten sie sich im Kampf um das knappe Gut gegen andere stärkere Tiere am Wassertrog durchsetzen. Zum anderen sei das Futter immer knapper. Vor wenigen Jahren habe sie sogar fast einige ihre Schafe töten müssen, weil zu wenig davon auf dem Markt war. Für sie ist es eine weitere Motivation, achtsam mit Tier und Natur umzugehen.
Als Stefanie von der Wiese zurückkommt, wartet eine Freundin auf sie. Sie besprechen, was in den nächsten Tagen zu tun ist, wenn sie demnächst auf den Hof zu ihren Eltern nach Ostfriesland fährt – der älteste ihrer Söhne übernimmt dann die Pflege der Vierbeiner. Inzwischen sind drei Stunden vergangen – fünf Anrufe erfolgt, mehrere Mistgabelhiebe gemacht und zwei Latte macchiatos getrunken worden.