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“Verwaltungsvorschriften kann man so oder so auslegen”

Ullrich Galle war Gewerkschaftsfunktionär, später sogar Landesminister. Aber die schönste Zeit seines Berufslebens, erzählt der heute 75-Jährige im Rückblick, das seien die Jahre im Amt des rheinland-pfälzischen Bürgerbeauftragten gewesen. Das Gefühl, Menschen zu helfen, die an der Verwaltung verzweifelten, habe ihn immer sehr erfüllt. „Ich habe gelernt, Verwaltungsvorschriften können so oder so ausgelegt werden“, lautet sein Fazit. Vor 50 Jahren schuf Rheinland-Pfalz nach dem Vorbild der skandinavischen Ombudsleute als erstes Bundesland eine Anlaufstelle für Bürger, die sich von staatlichen Stellen ungerecht behandelt fühlen. Mehrere Tausend Petitionen gehen im Büro des Bürgerbeauftragten jährlich ein.

„Die steigenden Anforderungen an den Staat und die Differenzierung der Lebenssachverhalte führen immer mehr zu einer Ausweitung und Komplizierung der öffentlichen Verwaltung“, notierten die Verfasser in der Begründung für das 1974 beschlossene Gesetz zur Einsetzung des rheinland-pfälzischen Bürgerbeauftragten. „Angesichts der schwer überschaubaren Zuständigkeiten und Rechtsschutzmöglichkeiten fühlt sich der Bürger im Verkehr mit den Behörden häufig überfordert.“

Bereits 1970 hatte die rheinland-pfälzische SPD vorgeschlagen, ein Vermittleramt zwischen Bürgern und Verwaltung zu schaffen. Dass die Initiative einige Zeit später von der regierenden CDU mit einem eigenen Gesetzentwurf aufgegriffen wurde, war kein Zufall. Denn der damalige Ministerpräsident Helmut Kohl (CDU) und seine Mitstreiter hatten es sich zum Ziel gesetzt, das bis dahin stockkonservative „Land der Rüben und Reben“ gründlich zu modernisieren. Und dass der Landtag im Mai 1974 nicht irgendjemanden, sondern gleich den Parlamentspräsidenten Johannes Baptist Rösler zum ersten Amtsinhaber wählte, zeigt, dass dem Posten von Anfang viel mehr zugedacht war als eine Alibifunktion.

Schon Röslers erster Jahresbericht weist über 1.900 Eingaben auf. Die Themen änderten sich im Laufe der Zeit. Anfangs kamen noch viele Hilfegesuche von Kriegsversehrten und Vertriebenen. Noch immer wenden sich viele Menschen bei Konflikten mit Sozialbehörden an das Bürgerbeauftragten-Büro. Auch die Regeln im Justizvollzug, Ausländerämter, der Rundfunkbeitrag und das kommunale Friedhofsrecht sorgen für anhaltend viel Arbeit. In jüngster Vergangenheit gebe es immer mehr Beschwerden über zu langsame Behörden, berichtet die aktuelle Bürgerbeauftragte Barbara Schleicher-Rothmund. Oft habe das für die Petenten existenzielle Folgen – etwa, wenn ein Wohngeldantrag neun Monate lang bearbeitet werde.

„Wenn ein Brief von uns kommt, dann wird das schon mit einer gewissen Dringlichkeit bearbeitet“, sagt die frühere SPD-Landtagsabgeordnete. „Keine Verwaltung möchte gern in unserem Jahresbericht stehen.“ Als Bürgerbeauftragte leite sie keine Aufsichtsbehörde, sondern erfülle eine „rein vermittelnde Funktion“. Mit dem gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten und Möglichkeiten und der personellen Ausstattung ihres Büros sei sie aber sehr zufrieden, sagt Schleicher-Rothmund: „Wir sind von unserem Modell wirklich überzeugt.“

In den zurückliegenden Jahrzehnten wurde das Amt immer weiter entwickelt, so ist die Bürgerbeauftragte seit einigen Jahren auch Beauftragte für die Landespolizei und für junge Menschen, die in Jugendeinrichtungen leben. Eine Reihe weiterer Bundesländer, darunter Baden-Württemberg, Thüringen und Schleswig-Holstein hat mittlerweile ebenfalls vergleichbare Anlaufstellen für Bürger geschaffen. Andere zögern noch immer.

Ullrich Galle, der dritte Amtsinhaber (1995-2010), sah sich stets als Anwalt der Bürger, denen er gegen zuweilen „bockbeinige“ Beamte zu ihrem Recht verhelfen wollte, und der bei Pressekonferenzen so manches Mal recht unverblümt „Ross und Reiter“ nannte. Mit seiner hartnäckigen Art habe er sich auch Gegner in den rheinland-pfälzischen Amtsstuben gemacht. Wiederholt habe es hinter den Kulissen Forderungen gegeben, Ministerpräsident Kurt Beck möge ihn „an die Kette“ legen. Doch das sei gar nicht möglich, denn der Bürgerbeauftragte sei vom Landtag gewählt und nur dem Parlament als Ganzes verantwortlich: „Ich habe immer gesagt: Über mir ist nur der blaue Himmel.“