Prag (epd). Als die Bagger anrollten, ahnten einige schon, was sie zutage fördern würden. Eine Mammutbaustelle dominiert in diesen Wochen das untere Ende des langgezogenen Wenzelsplatzes im Herzen von Prag: Der Boulevard soll umgestaltet werden, als erstes entfernen die Arbeiter die Pflastersteine – und viele von ihnen, das zeigte sich jetzt, sind aus Grabsteinen von geplünderten jüdischen Friedhöfen geschnitten worden.
Die handtellergroßen Kopfsteinpflaster-Steine zeigen Fragmente von hebräischen Inschriften und alten Jahreszahlen. Verlegt wurden sie während der Ära des Kommunismus so, dass die Inschriften nach unten zeigen und somit nicht sichtbar sind. In der jüdischen Gemeinde von Prag war es ein offenes Geheimnis, dass dort unter den Füßen der Passanten alte Grabsteine liegen.
Systematisch verbaut
Einer von denen, die über das Schicksal der geplünderten Friedhöfe forschen, ist Leo Pavlat, der Direktor des jüdischen Museums in Prag. In den späten 1980er Jahren, so erinnert er sich, sei er auf dem Weg zu seiner damaligen Arbeitsstelle in einem Kinder- und Jugendbuchverlag gewesen, als eine Straße im Zentrum neu gepflastert wurde. "Im Vorbeigehen habe ich auf einem Stapel Pflastersteine hebräische Inschriften gesehen. Da war mir klar: Das müssen alte Grabsteine sein."
Zwei der Pflastersteine steckte er ein – bis heute bewahrt er sie in seinem Büro auf. Einer zeigt hebräische Buchstaben, auf dem anderen ist die Jahreszahl 1895 zu lesen. Seit jenem Tag ahnte Leo Pavlat, dass in Prag systematisch Steine von jüdischen Friedhöfen zu Straßenbelag verarbeitet werden. Damals sprach niemand darüber – "aber in den 1990er Jahren fing man an, davon zu sprechen und darüber zu schreiben."
Verlassene Friedhöfe
Nur: Weil die Steine fest verbaut waren, konnte niemand der Sache auf den Grund gehen. Das ändert sich jetzt mit der Renovierung des Wenzelsplatzes. Als die Grabsteine im Kommunismus zu Kopfsteinpflaster wurden, fehlte es im Land an allem. Prag war eine graue Stadt, viele Gehwege wurden dauerhaft von Holzgerüsten vor herabfallenden Dachziegeln und Stuck geschützt. Also wurden offenbar die Friedhöfe als eine Art Steinbruch genutzt, um an Material zu kommen.
Nicht nur in Prag wurden die jüdischen Grabsteine zu kommunistischer Zeit für andere Zwecke missbraucht, sondern überall in Böhmen und Mähren. Friedhöfe heißen im Judentum "Ort des Lebens" oder "Ort der Ewigkeit". Jüdische Gräber dürfen nicht eingeebnet werden, sondern sollen ewig bestehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah aber gab es Hunderte jüdischer Friedhöfe im ganzen Land, die verlassen waren. Diejenigen, die sich um die Gräber ihrer Angehörigen kümmerten, waren selbst ermordet worden. Und so gab es niemanden, der sich für die Gräber zuständig fühlte – wohl aber wertvolle Grabsteine, oft aus Marmor oder Granit, die dort an die Toten erinnerten.
Rückgabe-Initiativen im ganzen Land
Dass Behörden daraus Pflastersteine schneiden ließen, war eine der häufigsten Verwendungen. "Oft wurden die Steine in Absprache mit den örtlichen Behörden auch an Steinmetze verteilt", sagt Leo Pavlat: Die schlugen die alten Inschriften heraus und verwendeten die kostbaren Steine für andere Gräber, versehen mit neuen Namen und neuen Geburts- und Sterbedaten.
Und häufig wurden die verlassenen jüdischen Friedhöfe schlicht von den Anwohnern geplündert. "Wenn jemand im Garten zum Beispiel einen Weg anlegen wollte, ging er also auf den Friedhof und holte sich dort die Steine, die er brauchen konnte", sagt Pavlat. Inzwischen gibt es überall im Land Initiativen, die die Grabsteine zurückholen – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist.
Für Aufsehen gesorgt hat beispielsweise eine Gruppe in Prostejov, einer Stadt in Mähren: Sie kümmert sich um das jüdische Erbe und wird von vielen Einheimischen unterstützt. Die geben alte Grabsteine zurück, die sie auf ihren Grundstücken haben.
100 Steine in wenigen Tagen
In den jüdischen Gemeinden selbst herrscht oft Uneinigkeit über den Umgang mit den Relikten, die allenthalben auftauchen. Es gebe so viele Synagogen und Friedhöfe, die sich noch erhalten ließen, seufzt etwa Frantisek Banyai, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Prag, und beschreibt das Dilemma: Sollte man seine finanziellen und personellen Kapazitäten nicht lieber darauf richten, das zu retten, was noch zu retten ist?