Aus der Rückschau betrachtet gab es einige Anzeichen: Depressionen, zunehmender Alkoholkonsum – das waren Symptome dafür, dass etwas nicht stimmte mit ihrem Mann. Der Alltag mit ihm war schwerer geworden, so dass seine beiden Töchter aus erster Ehe ihrer Stiefmutter bereits geraten hatten, sich von ihrem Vater zu trennen, um nicht mit in den Abgrund gerissen zu werden. Weil sie jedoch diese Mahnung verbunden hatten mit dem Satz: „Aber wir nehmen ihn nicht“, hatte seine Frau keine Wahl. Sie blieb bei ihm. Außerdem: Er war ja die Liebe ihres Lebens.
Und nicht nur das: Er war auch ein guter Vater, ein guter Ehemann, ein Familienmensch. Viele positive Attribute findet Frauke T. (Name der Redaktion bekannt) für ihren Mann Heinrich, den alle nur Heiner nannten: Fleißig sei er gewesen, liebevoll und fürsorglich, eine emotionale Stütze in ihrem Leben. Nie habe er über andere hergezogen. Er reiste gern und kochte nicht nur gern, sondern auch gut. Und er liebte Tiere – was für die heute 63-jährige Hundefreundin auch nicht unwichtig war.
Weiche Züge und gutmütige Ausstrahlung
Tatsächlich zeigen die Fotos einen Mann mit einer sympathischen und gutmütigen Ausstrahlung, weichen Zügen und vollem lockigen Haar. Einen Mann zum Anlehnen, einen Mann, dem man sich ohne Weiteres anvertrauen würde.
Was die Bilder freilich nicht offenbaren, sind seine Schwächen. Die größte und letztlich für die gesamte Familie schicksalhafte ist: Er ist kein Geschäftsmann. Das muss Frauke auf leidvolle Weise erfahren. Obwohl Diplomkaufmann und Spross einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, kommt er mit seinem Im- und Export von Baustoffen dauerhaft auf keinen grünen Zweig. Seit 1990, als Frauke den neun Jahre älteren Witwer geheiratet hat, jagt ein geschäftlicher Misserfolg den anderen. Das gemeinsame Leben, das so toll in einer schicken Hamburger Penthouse-Wohnung begonnen hat, endet – nach diversen Höhen und Tiefen – im Elternhaus der Ehefrau in Bielefeld.
Schulden über Schulden. Schließlich steht ihr Ehemann sogar ohne Krankenversicherung da. Damit die Familie überleben kann, nimmt die gelernte Röntgenassistentin Frauke verschiedene Stellen an, zunächst bei einer Schmuckfirma und später bei einem Juwelier.
Die wirtschaftliche Misere bleibt nicht ohne gesundheitliche Folgen: Während Frauke sich zu dieser Zeit noch einigermaßen aufrecht hält, entwickelt Heiner diverse Krankheiten: Diabetes, Allergien, Depressionen. Bis es dann im Februar 2009 zum Schlimmsten kommt.
Es ist ein Montag nach einem harmonischen Wochenende. Wie immer wird Frauke von ihrem Mann mit einer Tasse Kaffee geweckt. Danach steht sie auf, deckt den Frühstückstisch und ruft ihn. Als er nicht erscheint, geht sie in die erste Etage, ihn zu suchen. Dort sieht sie die offene Tür zum Dachboden. Noch immer ahnt sie nichts Böses. Sie geht hoch – und sieht ihn hängen.
„Ich weiß nicht, was in dem Moment in mir vorgegangen ist“, sagt Frauke. Dennoch tut sie reflexartig das, was notwendig ist: Sie ruft eine befreundete Nachbarin an, die Ärztin ist. Mit vereinten Kräften nehmen sie den Mann ab. Er lebt noch.
Was dann folgt, erlebt sie wie in Trance: Krankenwagen, Intensivstation, Warten, Hoffen und Bangen, und schließlich nach drei Tagen – ein Tag vor dem Tod des Mannes: der eigene Zusammenbruch.
Aber Frauke reißt sich schnell wieder zusammen. Sie muss stark sein, funktionieren für all das, was zu regeln ist, und für die Beerdigung in Hamburg. Ohne geistliche Begleitung wird die Asche ihres Mannes zu Grabe getragen. Lediglich die „Oma“, Heiners erste Schwiegermutter, zu der das Ehepaar eine gute und enge Beziehung unterhält, spricht ein Gebet. Frauke indes geht durch ein Wechselbad der Gefühle: Scham, Trauer, Unsicherheit – all das arbeitet in ihr.
Sie wird geschnitten und sogar beleidigt
Schlimmer aber als das ist der Umgang mit den Mitmenschen. Sicher, da gibt es auch welche, die ihr die Hand reichen und versuchen, sie zu trösten. Andere aber schneiden oder, noch verletzender, beleidigen sie. In Erinnerung ist ihr noch die zynische Nachfrage eines Bekannten: „Was ist denn über euer Haus für ein Fluch gekommen?“ Auch der örtliche Pfarrer hat kein tröstendes Wort für sie. Und dass sie bei der Arbeit über das Geschehene nicht sprechen darf, schnürt ihr „die Kehle zu“.
Geschwister ihres Mannes geben ihr sogar die Schuld an dem Suizid. Zugleich lehnen sie jedoch jeden Kontakt ab. „Ich hatte also nie die Chance, mit ihnen über meinen Mann zu sprechen und dabei die Missverständnisse zu klären“, sagt Frauke. Besonders bitter: Nachdem die erste Trauerphase vorbei ist, lassen auch die Stieftöchter sie im Stich: Briefe, Päckchen – alles bleibt unbeantwortet.
Das ist dann für Frauke der Anlass, selbst die Verbindung zu kappen: Sie nimmt wieder ihren Mädchennamen an. Auch das kein leichter Schritt. Vor allem keiner, der hilft, mit dem Geschehenen gänzlich abzuschließen. Das ist auch bis heute, zehn Jahre danach, nicht gelungen. Dass ihr Mann sich das Leben genommen hat, für die hinterbliebene Ehefrau ist das noch immer eine „offene Wunde“. „Normale Trauer um einen Angehörigen ist irgendwann vorbei“, sagt Frauke, aber der Suizid – „er zieht sich seither wie ein roter Faden durch mein Leben“.
Über allem steht die Suche nach dem Warum? Musste das sein? Gab es keine Alternative? Hätte er sich nicht helfen lassen können?
Vieles ist ihr inzwischen klar geworden: Zum Beispiel, dass es nicht zum Selbstbild ihres Mannes passte, sich die Depressionen einzugestehen. Oder die Mitverantwortung von Heiners Familie für den Suizid. Sie habe „Standards vorgegeben“, Geld habe immer eine große Rolle gespielt. Da musste/wollte ihr Mann mithalten, um nicht als Versager dazustehen. Leider geriet er – vertrauensselig wie er war – immer wieder an falsche Geschäftspartner. Für ihn – und sicher auch für die Familie – wäre es besser gewesen, so meint Frauke, er hätte irgendwo als Angestellter gearbeitet. Dann hätte er nicht so hoch hinaus gewollt. Und wäre nicht so tief gefallen.
Die Tragik: Tief gefallen ist mit ihm seine Frau. „Er nahm sich das Leben – und meines gleich mit!“ So sieht Frauke das heute. Mit dem Unterschied: Frauke musste und muss weiterleben. Hilfe dafür hat sie bei verschiedenen Menschen gefunden: zum Beispiel beim Klassenlehrer der jüngeren Stieftochter in Hamburg, der sie seit dem Tod ihres Mannes „ungefragt und sehr besonders liebevoll begleitet und immer wieder aufrichtet“.
Auch die beste Freundin aus Schulzeiten ist für Frauke da, zumindest in den ersten Jahren. 2015 jedoch kommt der nächste Schicksalsschlag: Die Freundin nimmt sich das Leben – gemeinsam mit ihrem Mann. Das ist dann die „Initialzündung“, sich an anderer Stelle Hilfe zu holen. Erstmals nimmt Frauke an einem Jahrestreffen der Selbsthilfeorganisation AGUS teil und erlebt dort, wie sie sagt, „viel Heilsames“.
AGUS – das steht für „Angehörige um Suizid“. Die Organisation wurde 1989 von der Betroffenen Emmy Meixner-Wülker in Bayreuth gegründet und ist ein gemeinnütziger bundesweit tätiger Verein mit Selbsthilfegruppen in mittlerweile 60 Städten.
Bei und zusammen mit Menschen, die – wie sie – Angehörige durch Suizid verloren haben, findet Frauke allmählich wieder den Weg zurück ins Leben. „Man braucht nichts zu erklären – alle wissen ja Bescheid“, sagt sie, „weil alle das Gleiche erlebt haben“. Und: Bei AGUS darf man seiner Trauer freien Lauf lassen, man darf weinen. Aber man darf auch gemeinsam lachen.
Wenn jemand nur zuhört, ist das schon viel
Auch Armin Piepenbrink-Rademacher hat ihr zur Seite gestanden. Er habe ihr zugehört, und das sei „schon viel“ für einen Menschen in ihrer Situation. Durch den Bielefelder Pfarrer habe sie sich erstmals wieder der Kirche zugewandt.
Beide zusammen haben jetzt in der Bielefelder Altstädter Nicolaikirche eine Veranstaltungsreihe zum Thema Suizid organisiert – mit einer Wanderausstellung von „AGUS“, Kurzgottesdiensten, einer Autorenlesung und einem thematisch gebundenen Sonntagsgottesdienst (siehe Kasten). Sie sind überzeugt, dass es in der Gesellschaft nicht nur an Informationen über das Thema fehlt, sondern vor allem an Mitgefühl und Verständnis für die betroffenen Angehörigen.
„Es jammert einen, mit welcher Hilflosigkeit und zum Teil Frechheit viele Menschen mit Suizid-Hinterbliebenen umgehen“, sagt Piepenbrink-Rademacher. Wenn ein Mensch sich selbst tötet – das sei ein schweres existenzielles Problem, über das man sprechen müsse. Das gelte für die Hinterbliebenen und ebenso für alle Menschen drumherum, die lernen müssen, auf angemessene Art und Weise Anteilnahme zu zeigen.
Auch Fraukes Weg zurück ins Leben nach dem Suizid ihres Mannes wäre vermutlich leichter gewesen, wenn mehr Menschen in ihrem Umfeld Bescheid gewusst hätten darüber, was der Suizid eines Angehörigen bedeutet. Und die ihr mitfühlend die Hand gereicht hätten.