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Überraschende Entscheidung: “Dahomey” gewinnt Goldenen Bären

Mit viel Publikumszuspruch und einem überdurchschnittlichen Wettbewerb hat sich das Berlinale-Führungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian verabschiedet. Der “Goldene Bär” für “Dahomey” konnte nur bedingt überzeugen.

Wohin nur mit all den Statuen? Es ist ein Akt von historischer Tragweite, als im November 2021 erstmals 26 Kunstgegenstände nach Benin zurücktransportiert werden, die in der Kolonialzeit geraubt und nach Frankreich geschafft worden waren. Doch das ist allenfalls ein Anfang, angesichts von mehr als 7.000 Beniner Kunstwerken, um die es insgesamt geht.

Nicht wenige Menschen in dem westafrikanischen Land sehen die Rückgabe deshalb als leere Geste oder gar als Beleidigung, wie es die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop in ihrem Dokumentarfilm “Dahomey” demonstriert, der am Samstag mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale ausgezeichnet wurde.

Doch die Rückkehr stößt auch auf Fragen und Vorbehalte. Müssen die Kunstwerke weiter im Präsidentenpalast in Cotonou präsentiert werden? Hat ein Museum nicht auch den Ruch kolonialer Erbschaft? “Dahomey” führt vor, wie komplex die vermeintlich einfache Diskussionslage um die Rückführung von kolonialer Raubkunst ist.

Es war eine durchaus überraschende Entscheidung der internationalen Jury, den wichtigsten Preis an “Dahomey” zu vergeben. Der nur 67 Minuten lange Film gelangt über einen überschaubaren Beitrag zu einer wichtigen Diskussion letztlich nicht hinaus. Zudem ist der unspektakuläre Ansatz des Dokumentarfilms wenigstens formal alles andere als repräsentativ für den Wettbewerb 2024, in dem sich etliche der Filme eindrücklich gegen das Erwartbare und Eindeutige stemmten.

Doch die Jury fand eine allenfalls in Teilen zufriedenstellende Lösung. Ein großes Fragezeichen ist etwa hinter die Auszeichnung für das beste Drehbuch zu setzen, die an Matthias Glasners dreistündiges Drama “Sterben” ging. Zwar gelingt es Glasner vor allem in der ersten Hälfte des Films, dicht von der Konfrontation eines Dirigenten (Lars Eidinger) mit dem unausweichlichen Tod seiner Eltern (Hans-Uwe Bauer, Corinna Harfouch) zu erzählen. In der Folge zerfasert “Sterben” aber in klischeeüberfrachtete Handlungsstränge.

Ein Herz für Vordergründigkeit bewies die Jury auch mit den beiden Schauspiel-Preisen. Für die beste Nebenrolle wurde die Britin Emily Watson für ihre Interpretation einer kaltherzigen Klostervorsteherin im Eröffnungsfilm “Small Things Like These” geehrt. Ein einprägsamer Kurzauftritt, zu dem es aber viele Alternativen mit mehr Zwischentönen gegeben hätte: Etwa den Auftritt von Lisa Wagner als ähnlich abweisend wirkende, letztlich aber komplexe Gefängniswärterin im Nazi-Widerstandsdrama “In Liebe, Eure Hilde” von Andreas Dresen.

Dessen Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries wäre auch eine der naheliegenden Kandidatinnen für die zweite Schauspiel-Auszeichnung gewesen, neben anderen herausragenden Miminnen wie Lily Farhadpour in der iranischen Tragikomödie “My Favourite Cake” oder der Nepalesin Thinley Lhamo in dem episch angehauchten Drama “Shambhala”.

Doch statt einen der stärksten Jahrgänge für Hauptdarstellerinnen zu würdigen, zeichnete die Jury wieder einen Mann mit dem Schauspiel-Preis aus. Wobei der US-Amerikaner Sebastian Stan in “A Different Man” mit Einsatz überzeugt, um seiner von einer Krankheit im Gesicht entstellten Figur Schattierungen zu verleihen.

Den Jahrgang 2024 prägten gerade künstlerisch innovative Arbeiten, die vielfach auch vermeintliche moralische Gewissheiten außer Kraft setzten. Regisseur Nelson Carlos de Los Santos Arias steuerte mit “Pepe” ein buntes Hybrid zwischen Doku-Material, Geschichtslektion, Tierfilm, Satire und Gesellschaftskritik zum Wettbewerb bei, entzündet an der Geschichte der Nilpferde aus Drogenbaron Pablo Escobars Zoo.

Neben “Shambhala” über die Suche einer Nepalesin nach ihrem Mann und letztlich nach sich selbst entfaltete sich auch “Black Tea” vom Mauretanier Abderrahmane Sissako als subtile Einlassung auf die Grenzen(losigkeit) bei der Erfüllung von persönlichen Wünschen. Der Franzose Bruno Dumont bescherte der Berlinale mit “L’Empire” seinen bislang gelungensten Abstecher in seine schräge Komik, in Form einer bildmächtigen Satire aufs Science-Fiction-Genre. Und der Südkoreaner Hong Sang-soo präsentierte mit “A Traveler”s Needs” über eine skurrile französische Sprachlehrerin eine weitere seiner minimalistischen, amüsanten Erkundungen menschlicher Missverständnisse und charakterlicher Reibungen.

Immerhin: “A Traveler”s Needs” (Großer Preis der Jury), “L’Empire” (Preis der Jury) und “Pepe” (Regie-Preis) fanden Gnade vor den Augen der Juroren. Völlig ignoriert haben sie allerdings den iranischen Wettbewerbsbeitrag “My Favourite Cake”. Der Film hatte sich mit seiner einfühlsamen Handlung um zwei alte Iraner, die gegen sämtliche Sittenregeln des Landes verstoßen, seinem überraschenden Humor und der bei aller Leichtigkeit scharfen Kritik an der Menschenfeindlichkeit des Mullah-Regimes als früher Favorit in Stellung gebracht.

Ohnehin verlief die Preisverleihung, die ja auch die Abschiedsvorstellung der scheidenden Führungsspitze Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian war, zäh und ohne erinnerungswürdige Momente. Von ihrem Hang zum unspektakulären Auftritt, den die beiden in den fünf Jahren ihrer Amtszeit gepflegt hatten, ließen sie auch hier nicht ab.

Mit dem großen Publikumszuspruch knüpft die Ära Rissenbeek/Chatrian nahtlos an die Zeit ihres Vorgängers Dieter Kosslick an. Der von manchen Journalisten (vornehmlich aus Berlin), aber auch von Claudia Roths Findungskommission formulierte Eindruck, die Berlinale habe Aufholbedarf als Publikumsfestival, ließ sich an der Wirklichkeit einmal mehr nicht bestätigen.