“Ich tanz, aber mein Herz weint” ist eine Schweizer Doku von 2024 über jüdische Unterhaltungsmusik aus den 1930er Jahren, die auf wundersamen Wegen der Zerstörung durch die Nazis entgangen ist.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
In den 1920er- und 1930er-Jahren blühte die jüdische Unterhaltungsmusik in Deutschland auf. Unter dem Dach des Jüdischen Kulturbundes war es den beiden Berliner Plattenlabeln “Semer” und “Lukraphon” sogar möglich, dieser Musik bis zur Pogromnacht am 9. November 1938 ein Refugium zu geben. Während das “Semer”-Schellackplattenlager bei den Brandanschlägen komplett zerstört wurde, gelang es Moritz Lewin, die Bestände von “Lukraphon” rechtzeitig ins Ausland zu schaffen. Dort verloren sich aber ihre Spuren.
Es ist den Musikenthusiasten Erich Rainer Lotz und Alan Bern zu verdanken, dass diese verloren geglaubte Musik durch jahrelange Recherchearbeit teils wieder rekonstruiert werden konnte. Die Schellackplatten der beiden Labels sind eine Fundgrube der besonderen Art. Im politisch brisanten Berliner Klima der 1930er-Jahre offenbarten sie ohne Scheu die widersprüchlichen Seiten jüdischer Identität. Nach dem Verbot jüdischer Künstler im Jahr 1933 wurden die beiden Label zu einem Zufluchtsort für Musiker und Kabarettisten, denen die Auftrittsmöglichkeiten in Deutschland genommen wurden.
Die Lieder heißen “Die Welt ist klein geworden”, “Kaddish (Der jüdische Soldat)”, “Leybke furt Amerika”, “Sholem baith”, “Das Kind ligt in vigele”, “Vorbei” oder wie der Titel des Films “Ich tanz”, aber mein Herz weint”. Sie erzählen von Tanz und Geselligkeit, von (verlorener) Liebe, Eifersucht und einer bangen Ahnung. Oder von jüdischen Männern, die in den Krieg ziehen. Und von deren Frauen, die zuhause mit ihren Kindern auf ihre Rückkehr oder zumindest eine Nachricht warten. Sie erzählen auch von der einstmals großen und weiten Welt, die plötzlich klein wie ein Fußball zu sein scheint, und von der USA als dem Auswanderungsziel, das vielleicht nicht erreicht wird.
Der souveräne und sehr sehenswerte Dokumentarfilm von Christoph Weinert von 2024 macht sich auf die Suche nach den verschollenen Liedern und Arrangements und erinnert an das Schicksal ihrer wichtigsten Interpreten.
“Ich hab’ so fest geglaubt: es müsst’ für ewig sein. Vorbei, vorbei, vorbei”, singt Dora Gerson. Das Jahr 1935, in dem diese berührende Aufnahme entstand, zeigt die Doppelbödigkeit ihres melancholischen Chansons. Denn die jüdische Stummfilmschauspielerin und Kabarettsängerin besingt nicht einfach nur den Abschied ihres Geliebten. Das traurige Lied ist zugleich ein politischer Abgesang auf ihre vormalige Verwurzelung in der deutschen Kultur. 1943 folgt dann ihr endgültiger Abschied: Die frühere Gattin des “Jud Süß”-Regisseurs Veit Harlan wird in Auschwitz ermordet.
Doch nicht nur sie und ihre Kollegen wollten die Nazis physisch zerstören. Sie wollten obendrein auch die jüdische Musik völlig mit ausradieren. Das ist ihnen auch geglückt – beinahe. Schellackplatten mit hunderten von Aufnahmen wie die von Dora Gerson wurden durch die akribische Recherchearbeit zweier Enthusiasten unlängst ausgegraben. Diese Schätze dokumentieren eine unvermutete Vielfalt jüdischer Musikproduktion, entstanden im Berlin der 1930er Jahre. Über die Existenz dieser Musik, die von jüdischen Künstlern auch nach der NS-Machtergreifung von 1933 noch eingespielt worden ist, wurde jahrzehntelang gerätselt. “Als ich mit meinen Recherchen begann”, so der Musikforscher Rainer Lotz, “hatte niemand auf der Welt eine Ahnung, wovon ich spreche”.
Diesen vergessenen Klängen und Harmonien, komponiert von deportierten jüdischen Künstlern, widmet sich Christoph Weinert in seiner neuen Dokumentation. Der Filmemacher, bekannt durch zahlreiche Projekte über die jüdische Kultur, taucht anhand von Interviews mit Plattensammlern und Historikern tief ein in die Geschichte der beiden Berliner Labels “Semer” und “Lukraphon”. Unter dem Dach des von den Nationalsozialisten propagandistisch genutzten “Jüdischen Kulturbundes” durften jüdische Musiker bei diesen beiden Firmen – die von den nicht miteinander verwandten Namensvettern Hirsch Lewin und Moritz Lewin geführt wurden – noch eine Zeit lang ihre Kompositionen und Interpretationen einspielen.
Begünstigt wurde diese Schaffensperiode auch durch die Olympischen Spiele des Jahres 1936. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit, die seinerzeit auf Berlin schaute, wollten sich die Nazis keine Blöße geben. Doch diese unglaublich kreative Phase, so zeigt der Film, endete jäh mit den Novemberpogromen 1938. Ein aufgestachelter Mob verwüstete damals nicht nur Synagogen und Geschäfte. Auch der kulturelle Schatz unzähliger Schellackplatten sowie die Matrizen für deren Aufnahmen fielen der entfesselten Vernichtungswut zum Opfer. Bis vor kurzen war es, als hätte diese Musik faktisch nie existiert.
Nicht allein durch das Abspielen dieser Platten wird “Ich tanz und mein Herz weint” zu einer Zeitreise im doppelten Sinn. Es geht nämlich nicht nur um eine abstrakte Geschichtslektion. Zu einem Erlebnis – insbesondere für das Ohr – wird der Film, weil hier nicht einfach nur alte, knisternde Schellackaufnahmen ertönen. Der Film beobachtet obendrein ein Konzert des renommierten Semer-Ensembles, dessen Mitglieder vor der Kamera berichten, wie sie sich anhand dieser verschollen Musik der jüdischen Kultur aus den 1930ern wieder annäherten.
“Wir müssen”, so Alan Bern vom Semer-Ensemble, “zu dem, was geschehen ist, in eine persönliche Beziehung treten. Mit Hilfe der Kunst kann das gelingen”. Genau hier springt der Funke über: Mitreißend performte Lieder, meist auf jiddisch gesungen, ermöglichen eine Zeitreise aus der Schellack-Epoche zurück ins hier und jetzt. Das Konzert, das der Film dokumentiert, lässt die Musik der von der Schoah ausgelöschten Juden wieder lebendig werden.
Das gilt ebenso für die Biografien einzelner Künstler, deren Schicksale die Dokumentation jeweils anreißt. Zu ihnen zählt der quirlige, lebensfrohe Kabarettist und Komponist Willy Rosen. An ihn erinnert heute ein Stolperstein vor seiner ehemaligen Berliner Wohnung. Ganz in der Nähe nahm er damals das Lied “Wenn ich den Text nicht weiter kann, dann sing’ ich trallalalala” auf. Für heutige Ohren mag dies wie ein banaler Schlager klingen. Die Dokumentation erinnert jedoch daran, wie der seinerzeit populäre und produktive Musiker mit diesem Trallalalala so direkt wie humorvoll zum Ausdruck brachte, dass er unter den Nazis eben nichts Konkretes mehr sagen durfte. Wie viele seiner Kollegen wurde er nach Auschwitz deportiert. Vermutlich schon auf dem Weg dorthin kam er 1944 um.