Das Trauma der Schoah belastet noch immer die Nachfahren von Überlebenden. Auch Kim Seligsohn möchte sich von den unausgesprochenen Dramen befreien. Eine Dokumentation begleitet sie auf ihrem schwierigen Weg.
Man merkt Lore an, dass sie über die Vergangenheit nicht reden will. Ihr Gesicht ist versteinert, der ganze Körper strahlt Abwehr aus. Sie ist eine Schoah-Überlebende. Ihre Wohnung quillt über mit Zeitungsartikeln und Gegenständen, die längst entsorgt werden müssten. Auf Karteikarten schreibt sie Artikel aus dem “Weser-Kurier” ab. Sie archiviert, katalogisiert und sortiert sie in Kisten und Körben, die alle Gänge versperren. Es scheint ein Versuch zu sein, das Unfassbare in Griff zu bekommen. Es gibt Phasen, in denen sie sich zu essen weigert.
Ungewöhnlich ist das für eine Überlebende nicht. Andere legen Vorräte an Lebensmitteln an. Sie schweigen sich über ihre Erlebnisse aus, verdrängen das Trauma. Doch die Vergangenheit kehrt zurück – vor allem, wenn Betroffene Kinder bekommen haben. Diese sind es nicht selten, bei denen die nicht gelebte Trauer umso heftiger zum Vorschein kommt, in einer Depression, Überängstlichkeit oder lähmenden Selbstzweifeln. Die Sprachlosigkeit der Überlebenden belastet mitunter auch noch die Enkelkinder. Der Weg der Nachkommen, dem Schatten der Schoah durch Aussprache zu entkommen, ist belastend und nicht immer von Erfolg gekrönt.
Schuldgefühle kennt auch die Mezzosopranistin Kim Seligsohn. Als Tochter von Lore trägt sie das Trauma seit Jahrzehnten mit sich. In der Doku “Liebe Angst” unter der Regie von Sandra Prechtel ist sie es, die man als Co-Autorin sprechen hört. Das rbb-Fernsehen zeigt die schonungslose Dokumentation am 6. November ab 22.45 Uhr.
Seligsohn war sechs Jahre alt, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Überlebt haben sie und ihre beiden Brüder in einem Versteck in Pommern, auf dem Dachboden einer Bauernfamilie. Außer ihrer Mutter wurden alle anderen Familienmitglieder in den Konzentrationslagern ermordet. Nie wieder wollte diese über ihren Sohn Tom sprechen, der sich das Leben nahm. Kim Seligsohn aber möchte sich aus den unausgesprochenen Dramen befreien. Oder zumindest ihre eigenen Dämonen verstehen.
Die Passivität der Mutter geht sie offensiv an. Sie versucht sich ihr anzunähern, auch wenn diese sich scheinbar teilnahmslos abwendet. Sie geht mit ihr auf den Friedhof, wo sie das Grab des Bruders besuchen. In die Psychiatrie, wo sie seine Akte einsehen. Man wird Zeuge des einseitigen und zugleich intimen Duells, mitunter bis an die Schmerzgrenze. Und es dauert eine ganze Weile, bis man sich nicht mehr als Voyeur fühlt.
Um Risse in der Fassade der Mutter zu verursachen, erzwingt Kim Seligsohn immer wieder das Gespräch. Sie erinnert sich an ein Aufwachsen ohne Vorschriften, aber auch an Lieblosigkeit. Die Ehe der Mutter scheiterte. Sie arbeitete als pädagogische Hilfskraft in einer Schule oder putzte in einer Stadtbibliothek, da sie nachts nicht schlafen konnte. Der Suizid des Bruders und der Missbrauch als Jugendliche durch einen älteren Mann hatten Kim Seligsohns ohnehin angeknackste Psyche zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen. Sie litt an Angstneurosen und fiel durch die Bewerbung an der Musikhochschule Berlin.
Mit 17 Jahren zog sie in die Stadt und mietete durch Zufall eine Altbauwohnung, die ausgerechnet gegenüber der ihrer einst verschleppten Großmutter lag. Der nichtjüdische Großvater hatte sich von seiner Frau getrennt, die dadurch nicht mehr durch eine “privilegierte Mischehe” geschützt war. Auf dem Weg nach Auschwitz war sie mit dem vierten Kind schwanger.
Kim Seligsohn konnte sich befreien, während ihr Bruder bei der traumatisierten Mutter blieb und sich allmählich selbst aufgab. Was nicht heißt, dass die Leidensgeschichte für Kim zu Ende ging. Sie ließ sich mit 40 Jahren taufen, möchte aber ihre jüdische Herkunft nicht verraten. Immer noch sucht sie nach Stabilität. Ihre Selbsterforschung wird von eingestreuten Film- und Audioaufnahmen begleitet. Immer wieder ist auch Kims Gesang zu hören, vertonte Gedichte und die “Hymne an die Namen”, mit der die Sängerin seit vielen Jahren in Mahn- und Gedenkstätten, Museen, Kirchen und Synagogen auftritt.
Der Krieg der Mutter tobt in ihr weiter. In dem erschütternden Dokumentarfilm “Liebe Angst” wird man Zeuge eines Ablösungsprozesses, der in der häufig zerrissenen Post-Schoah-Generation nie an ein Ende gelangt. Die seelischen Wunden bleiben offen – nur das Verdrängen gelingt nicht mehr.