Als Brücke zwischen Europa und Asien spielte die Türkei immer eine Sonderrolle. Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet. Bis heute ist sie ein Land der Widersprüche.
Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt das Jubiläum für seine Vision einer “neuen Türkei”: Immer wieder hat er den 100. Jahrestag der Staatsgründung zum symbolischen Beginn eines “türkischen Jahrhunderts” des Wohlstands stilisiert – mit ihm an der Spitze der Nation. Allerdings sicherte dem autoritären Staatschef im Mai nur eine Stichwahl gegen einen Sozialdemokraten weitere fünf Jahre an der Macht.
Bei den erwartbar pompösen Feiern am Sonntag hat er es mit einem anderen Widersacher zu tun: Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), dessen Porträts im Land immer noch allgegenwärtig sind. Er schuf die moderne laizistische Türkei, die Erdogans Politik der Reislamisierung wieder in einen Hort der Religion verwandelt hat.
Die türkische Republik, die Armeechef Kemal am 29. Oktober 1923 in Ankara ausrief, war das Produkt einer Geschichte von Krieg und Vertreibung, aber auch ein beeindruckendes Symbol nationaler Selbstbehauptung. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg hatten Griechen, Italiener, Franzosen und Briten das Staatsgebiet unter sich aufgeteilt. Auch die 1915/16 von Türken und Kurden fast ausgelöschten Armenier sollten ein Stück von Anatolien erhalten. Den Türken ließen die Sieger nur einen Rumpfstaat am Schwarzen Meer.
Dagegen organisierte Kemal den militärischen Widerstand. Im Befreiungskrieg 1919-1923 kam es vor allem zwischen Türken und Griechen zu Gräueltaten. Höhepunkt war 1922 die Brandschatzung des multikulturellen Smyrna, heute Izmir, wo türkische Truppen Zehntausende griechische und armenische Einwohner ermordeten.
Seit 3.000 Jahren lebten Griechen in Kleinasien – der Vertrag von Lausanne, der 1923 die türkische Unabhängigkeit in den heutigen Grenzen anerkannte, zwang 1,5 Millionen Griechen, die Türkei zu verlassen. Im Gegenzug mussten eine halbe Million Türken aus Griechenland auswandern – bis heute belastet dieses Kapitel das Verhältnis beider Länder.
Kemal, später als “Vater der Türken” (Atatürk) verehrt, setzte als Präsident ganz auf Nationalismus und westliche Moderne. Sein Gegner: die Religion. “Der Islam, diese Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet”, fluchte der Freimaurer. Nur die radikale Trennung von Staat und Religion garantiere Fortschritt.
Nie wurde eine islamische Gesellschaft so kompromisslos umgekrempelt wie die türkische: Den Sultan schickte Atatürk ins Exil; Scharia und Kalifat schaffte er ab und führte europäische Gesetzbücher ein; das Glaubensleben unterstellte er einer Religionsbehörde, Imamschulen schloss er und verbot die mächtigen islamischen Bruderschaften. Seinem Volk verordnete Kemal westliche Kleidung und das lateinische Alphabet, verbannte den Schleier aus der Öffentlichkeit und gab den Frauen gleiche Rechte.
Die Kehrseite des Kemalismus waren Personenkult, die Unterdrückung von Minderheiten wie den Kurden, Scheindemokratie und die Übermacht der Armee. Sie verstand sich die kommenden Jahrzehnte als Wächter von Atatürks Erbe. Auch als die Türkei zur einzigen pluralen Demokratie in der islamischen Welt geworden war, putschten die Generäle, sobald sie ihr Staatsverständnis bedroht sahen.
Trotz Bindung an den Westen durch den NATO-Beitritt 1952 und die Anwartschaft zur EU hatten es Menschenrechte und Minderheiten schwer. Türkisch und sunnitisch hat die Republik zu sein. Was davon abweicht – ob Kurden, Aleviten oder die wenigen verbliebenen Christen -, gerät schnell ins Visier der Behörden; dunkle Flecken wie der Genozid an den Armeniern werden geleugnet.
Seit den 1980er Jahren kehrte der Islam zurück, bildeten sich islamistische Parteien, auch im Bündnis mit Rechtsextremisten. Mit Erdogan und der Massengefolgschaft seiner Partei AKP gewann die Entwicklung seit 2002 noch an Dynamik, selbst die Armee drängte er zurück. Die Wiederzulassung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, der Ausbau religiöser Schulen und die Rückumwandlung der Hagia Sophia vom Museum in eine Moschee zielten auf die Grundfesten des Laizismus. Außenpolitisch schwankt die Türkei zwischen dem Streben in die EU und neo-osmanischen Großmachtträumen mit islamistischen Zügen. Den Hamas-Terror gegen Israel rechtfertigt Erdogan als “Freiheitskampf”.
Gute Wirtschaftszahlen gaben der Liquidierung des Kemalismus eine Zeit lang Rückendeckung. Doch heute kratzen Inflation und Arbeitslosigkeit, Korruption und Polizeiwillkür am Bild des “Sultans”, der sich erstmals in 20 Jahren einer Stichwahl stellen musste. Am Beginn ihres zweiten Jahrhunderts ist die Republik Türkei ein gespaltenes Land und steht mehr denn je am Scheideweg zwischen westlicher Moderne und islamischer Tradition.