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Trotzdem da

Die meiste Zeit seines Lebens hatte Gerd A. Meyer das Gefühl: Da fehlt ein Teil von mir, ich bin nicht ganz. Erst jetzt, nach Jahrzehnten intensiver Suche, hat sich daran etwas geändert, grundlegend. Das hat mit dem „A“ zu tun, das der 79-Jährige aus der Lüneburger Heide seit einiger Zeit in seinem Namen trägt. Die Abkürzung steht für „Anatoljewitsch“, Sohn des Anatolij. Und das „A“ ist es auch, das mitten hineinführt in eine Geschichte von Liebe, Angst und Tod.

Gerd A. Meyers Vater, Anatolij Michailowitsch Pokrowskij, wollte eigentlich studieren, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Der damals 19-jährige Russe wurde zum Militär eingezogen und geriet schon kurz darauf in Kriegsgefangenschaft. Er kam in das NS-Lager im niedersächsischen Sandbostel und wurde von dort mit einem Arbeitskommando auf einen Bauernhof geschickt. Auf dem Hof verliebten sich Anatolij und die Tochter des Landwirtes – zu NS-Zeiten ein schweres Verbrechen.

„Das war ein Tabu, das durfte niemand wissen, die Gefahr der Denunziation war einfach zu groß“, weiß Gerd A. Meyer heute. Denn der Umgang mit „Fremdvölkischen“, wie die Nazis Menschen wie Anatolij nannten, war streng verboten. Ein Brot oder Briefe zustecken, gar Küsse austauschen, das stand schon unter Strafe. Das Schlimmste an solchen Beziehungen waren aus Sicht der Nazis „GV-Verbrechen“ – „Geschlechtsverkehr-Verbrechen“. Besonders schwer wog der sogenannte „Kriegsehebruch“: wenn ein Wehrmachtssoldat, der an der Front war, betrogen wurde.

Besonders in polnischen und sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sah die Rassenideologie des Hitler-Regimes „minderwertige“ Menschen, denen elementare Rechte verweigert wurden. „Bei freundschaftlichen oder intimen Kontakten mit Deutschen konnten beiden Seiten hohe Strafen drohen“, sagt Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte in Sandbostel. „Sie reichten von Gefängnisstrafen über die Einweisung in ein Konzentrationslager bis zur Todesstrafe. Dennoch wurden Kinder aus solchen Beziehungen geboren.“

Unter dem Titel „Trotzdem da!“ zeigt die NS-Gedenkstätte Sandbostel jetzt erstmals eine Ausstellung, die sich mit den Lebensgeschichten von Kindern aus verbotenen Beziehungen im Nationalsozialismus beschäftigt. Die Dokumentation ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes, das mit Bundesgeldern gefördert wurde. So konnten mehr als 20 Kinder aus verbotenen Beziehungen aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden ausfindig gemacht werden – berührende Lebensgeschichten.

Auf der Website www.trotzdemda.de werden die Inhalte der Ausstellung mit Biografien, dem historischen Hintergrund und Informationen zum Projekt dokumentiert. Bis zum 14. März des kommenden Jahres ist die Schau in Sandbostel zu sehen. Danach sind bereits weitere Termine in Bremen, Köln und Berlin sowie in der rheinland-pfälzischen NS-Gedenkstätte KZ Osthofen und in Leipzig geplant.

Einer der Betroffenen, sagt Ehresmann, habe die Quintessenz des Forschungsprojektes knapp so formuliert: „Ich bin nicht mehr allein mit meinem Schicksal.“ Auch Gerd A. Meyer hat mit seiner Geschichte zu der Ausstellung beigetragen. Sein Vater starb im Februar 1945 nach schwerer Krankheit im Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel – und wusste gar nicht, dass er Vater wurde. Sein Sohn Gerd kam im November zur Welt. Und dessen Mutter schwieg, was die Herkunft anging, denn das rassistische Denken war mit dem Kriegsende nicht vorbei.

Diskriminierung, Scham und mangelndes Wissen über die eigene Herkunft führten dazu, dass nur wenige der Kinder später mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit traten. „Der gesellschaftliche Druck war groß, meine Mutter hat das lange verdrängt, das war wie eingekapselt“, denkt Gerd A. Meyer zurück. Doch bei ihm wuchs der Wunsch, etwas über seine Wurzeln zu erfahren, genau zu wissen, wer sein Vater war – und wer er selbst ist.

In der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in Dresden entdeckte er den entscheidenden Hinweis auf den Nachnamen seines Vaters. Bald darauf fand er die Familie von Anatolij, die in Semetschino lebt, einer kleinen Stadt bei Moskau. Zur Erinnerung an seinen Vater hat Gerd A. Meyer auf dem Lagerfriedhof in Sandbostel ein Votivkreuz auf einem Massengrab aufgestellt. Eine Gedenktafel davor entreißt Anatolij Michailowitsch Pokrowskij der Anonymität: Geboren am 27. Oktober 1921, gestorben am 28. Februar 1945.