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Totenklage und Gedächtnis des Schreckens

Die Tagung „Türken und Armenier 1915“ widmete sich dem Gedächtnis, der Erinnerung und der künstlerisch umgesetzten Klage des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren

Im Zuge der Auseinandersetzung des Bundestags mit der Bundesregierung im April 2015 über die Bezeichnung des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren im Osmanischen Reich ist dieser Genozid Gegenstand einer kurzen öffentlichen Auseinandersetzung geworden.

Es gibt keine Zeitzeugen des Genozids mehr

Die Anerkennung als Völkermord, um die im Bundestag und mit der Regierung gerungen wurde, stand bei Veranstaltern und Teilnehmern einer Tagung der Evangelischen Akademie Villigst im Juni außer Frage. Hier standen allerdings das Gedächtnis, die Erinnerung und die – künstlerisch umgesetzte – Klage im Vordergrund. Man wollte dem Gedächtnis des Schreckens auf armenischer, türkischer und deutscher Seite nachgehen.
Anders als bei der Shoah gibt es von der großen Katastrophe keine Zeitzeugen mehr und anders als beim Holocaust wird der Genozid an den Armeniern von den türkischen Regierungen bis heute geleugnet. Die Verweigerung der Anerkennung ist also Teil des Gedächtnisses geworden. Und doch ist es notwendig, ein gemeinsames Gedenken zu erreichen, das Grundlage einer möglichen Verständigung ist, die wiederum unabdingbar für eine gemeinsam gestaltete Gegenwart und Zukunft wäre.
Einen Weg dahin hat der Historiker Jörn Rüsen skizziert. Er schlägt vor, das Leiden und das Inhumane als neue Kategorien in die Geschichtswissenschaft aufzunehmen. Ein Völkermord sei immer eine traumatische Erfahrung. Sie zerstöre Sinn, sowohl für die Opfer als auch auf Täterseite. Das Leiden als neue Sinnbildungskategorie könne die Opfer/Täter-Trennung zum Teil aufheben, um über die gemeinsame Trauer die Sinnlosigkeit in den historischen Sinn zu integrieren. Man müsse in der Geschichtswissenschaft neu nach dem Menschen fragen. Grundlage dafür ist die Besinnung auf die Gleichheit der Menschen und ihrer Würde, um eine zukunftsgerichtete Rekonstruktion des Gewesenen zu ermöglichen. Diese Verbindung von Würde, Leid und Einsicht ist sinnvoll, da die generelle Ethnisierung von Konflikten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des Ersten Weltkrieges sich über alle Volksgruppen und Nationalstaaten erstreckte. Auch im osmanischen Reich wurde die Loyalität zum Staat mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie gleichgesetzt. Diese ausgrenzende Definition von Volkszugehörigkeit, Nation und Staat war ein Einfallstor für ethnische Säuberungen und gehörte zum ideologischen Rüstzeug der Jungtürken.

Anerkennung ist notwendiger Schritt

Auch in der Literatur wird das Täter-Opfer-Verhältnis thematisiert. Zwischen Jean Améry und Hrant Dink, beziehungsweise dem literarischen Umgang mit der Shoah und dem Völkermord an den Armeniern gibt es Gemeinsamkeiten. Jean Améry bestand zeitlebens auf dem Recht der Opfer auf Ressentiments, die eine Reaktion auf fehlende Anerkennung des Leides und verweigerter Solidarität sind. Ganz ähnlich argumentiert der von einem türkischen Nationalisten ermordete Hrant Dink, wenn er davon spricht, dass der Kampf gegen die Entwürdigung der Kampf um Anerkennung und Solidarität sei.
Dass es aber auch 100 Jahre nach dem Genozid einen gemeinsamen Neuanfang geben kann, bestärkten in einer Podiumsdiskussion der armenische Pfarrer Diradur Sardaryan und der türkische Autor Doan Akhanlı. Beide betonten, dass die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern der erste, aber zwingend notwendige Schritt auf dem Weg eines Zusammenlebens sei. Diese Anerkennung ist dringend geboten, um den bis heute in der Türkei verbliebenen Armeniern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und um aus der gemeinsamen Geschichte eine neue, am besten gemeinsame Erzählung zu schaffen.