Ich bin gottgewollt!
Wie eine junge Frau für mehr Anerkennung als Behinderte kämpft – auch in der Kirche
Toni Dedio studiert in Göttingen Evangelische Religion und Anglistik auf Lehramt. Die 21-Jährige liebt es, zu schreiben und zu zeichnen, betreibt einen Instagram-Kanal und ist gerne in der Natur unterwegs. Dedio erlitt Hirnschädigungen durch Sauerstoffmangel während der Geburt und ist daher in ihrer Mobilität stark eingeschränkt. Sie lebt in einer WG und wird rund um die Uhr von Assistent*innen unterstützt. Mit Anke von Legat sprach sie über ihren Einsatz gegen die Ausgrenzung von Behinderten in der Gesellschaft und der Kirche und über ihre Wünsche für mehr radikal gelebtes Christentum.
Frau Dedio, Menschen mit Behinderungen, mit Beeinträchtigungen, mit Förderbedarf – viele nicht-behinderte Menschen sind sich unsicher bei der Bezeichnung. Wie nennen Sie sich selber?
Ich bezeichne mich als behindert. Meine Behinderung macht einen zentralen Teil von mir aus; sie ist für alle sichtbar, sie lässt sich nicht wegdiskutieren. Ich sehe aber auch nicht ein, dass ich besonders betonen soll, dass ich ein Mensch bin – das ist ja wohl selbstverständlich. In dem Wort „behindert“ steckt auch, dass ich oft auf meine Behinderung reduziert werde: Dann sehen andere in mir nur die Person, die im Rollstuhl sitzt und Hilfe braucht. Und es steckt darin, dass ich von außen behindert werde, zum Beispiel durch die Gesellschaft. Übrigens: Wer unsicher ist, welches die richtigen Worte sind, fragt uns am besten einfach. Aber bitte respektvoll und vielleicht nicht als Eingangsfrage.
Wo erleben Sie Behinderung durch die Gesellschaft?
Vor allem in den vielen Kleinigkeiten des Alltags: Im Fahrstuhl sind oft die Knöpfe für mich nicht zu erreichen. Im Supermarkt komme ich nur an die unteren Regale. Wenn ich mit der Bahn fahren will, muss ich das aus versicherungstechnischen Gründen zwei Tage vorher anmelden. Es kommt auch vor, dass Bahnen an mir vorbeifahren, weil sie mich trotzdem gar nicht wahrnehmen. Und, was ich als besonders diskriminierend empfinde: Ich habe schon erlebt, dass ein Arzt nur mit meiner Begleitperson über mich spricht, statt mit mir, der Patient*in.
Und wo erleben Sie „Unsichtbarkeit“?
Zum Beispiel in den Medien, die ja die Sicht einer Gesellschaft repräsentieren: Behinderte Menschen in Filmen kann ich an einer Hand abzählen – und diese Rollen sind dann oft nur auf die jeweilige Behinderung fokussiert, Beiwerk, statt einen eigenen Charakter darzustellen. Aber auch in der realen Welt habe ich das Gefühl, dass Behinderte nach wie vor von der Gesellschaft exkludiert werden und in Förderschulen oder Heimen unter sich bleiben sollen. Für viele bin ich die erste Person im Rollstuhl, die sie treffen. Dabei sind zehn Prozent der Bevölkerung behindert!
Sie selbst haben einen anderen Weg hinter sich.
Ich hatte das Glück, während meiner Schulzeit Regelschulen zu besuchen und hatte dadurch anfangs immer nur mit Nichtbehinderten zu tun. Allerdings bin ich so auch erst relativ spät mit der Behinderten-Community in Kontakt gekommen. Im Teenager-Alter war das schwierig für mich: Ich saß zwischen den Stühlen, im wahrsten Sinne des Wortes. Für die einen war ich zu behindert, für die anderen nicht behindert genug. Außerdem wollte ich lange nicht mit „den Behinderten“ in einen Topf geworfen werden, aus Scham. Da behinderte Menschen exkludiert wurden und werden, wollte ich so „normal“ wie möglich sein, auch wenn meine Familie und meine Freundinnen und Freunde mich so annahmen, wie ich war. Inzwischen weiß ich, dass das kompletter Humbug ist.
Wie haben Sie diese Schwierigkeiten überwunden?
Ich habe für mich selbst die Bedingungen geschaffen, zu sein wie ich bin. Und ich habe für mich die Aufgabe entdeckt, zu vermitteln – also diese Behindertensache den Nichtbehinderten zu erklären und umgekehrt. Wobei man den Nichtbehinderten wesentlich mehr erklären muss. Ich habe ja das Glück, dass ich sprechen und mich verständlich machen kann. Ich kann meine Meinung vertreten – wenn die Räume dafür geboten werden. Wenn nicht, dann schaffe ich sie.
Sie bezeichnen sich als Aktivist*in und machen an vielen Stellen, vor allem im Internet, darauf aufmerksam, dass Behinderte in unserer Gesellschaft immer noch benachteiligt und übersehen werden.
Ich bin Aktivisti*n mit Leib und Seele und ein durch und durch politischer Mensch. Ich finde, als Christ*in habe ich gar keine andere Wahl: Christentum hängt mit politischer Subversion zusammen, mit Kritik an bestehenden (Macht)Strukturen, Kritik an Ausgrenzung.
Apropos Christentum: Erleben Sie auch in der Kirche Ausgrenzung?
Ja, das kommt vor. Es gibt zum Beispiel immer noch viele Kirchengebäude, die für Personen im Rollstuhl wegen der Treppen gar nicht erst zu erreichen sind. Bei denkmalgeschützten Kirchen darf häufig gar keine Rampe eingebaut werden – was ist das für ein Bild? Und wenn ich drin bin, muss ich oft irgendwo am Rand sitzen, gehöre also rein optisch schon nicht richtig dazu. Ausgrenzend finde ich auch den Satz „Zum Vaterunser erheben wir uns“ – weil ich dann die einzige Person bin, die sitzenbleiben muss. Das ist sehr unangenehm.
Trotzdem studieren Sie Theologie und sind in der Kirche aktiv.
Kirche macht ja auch super Sachen. Ich habe eine tolle Jugendarbeit kennengelernt und finde zum Beispiel die Flüchtlingsarbeit sehr überzeugend; bei beidem engagiere ich mich auch selbst. Aber an manchen Stellen klopft Kirche sich meiner Meinung nach zu schnell auf die Schulter, weil angeblich alle genauso angenommen werden, wie sie sind. Das ist an vielen Stellen noch nicht so, sei es aufgrund der Herkunft, der Sexualität oder des Geschlechts – oder eben aufgrund von Behinderungen. Und es gibt tatsächlich auch Gruppierungen innerhalb des Christentums, die mir erklären, dass ich im Rollstuhl sitze, weil ich nicht genug gebetet habe.
In der Bibel wird Krankheit und Behinderung als ein Makel gesehen oder sogar als Folge von Sünde. Von Jesus wird erzählt, dass er Menschen heilt. Was bedeuten solche Geschichten für Sie?
Die Bibel ist voller behinderter Menschen, auch wenn sie vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Denken Sie an die Jünger – das waren Handwerker; die hatten sicherlich die eine oder andere Behinderung durch einen Arbeitsunfall. Jesus hatte nach seiner Auferstehung Kreuzigungsmale; es wird seinen Sinn haben, dass die nicht einfach verschwunden sind. Heilungsgeschichten sehe ich differenziert und suche nach dem Kern: Was wird da heil, wenn Menschen mit Jesus zusammentreffen? Wenn ich nur auf die körperliche Heilung sehen würde, könnte ich nicht mehr glauben. Ich bin ja das lebende Gegenbeispiel dafür, dass auch ganz viel Beten nicht hilft. Wieso sollte es auch? Ich bin gottgewollt!
Was bedeutet das für Ihren Glauben?
Natürlich gab es Zeiten, in denen ich mit Gott im Clinch lag: Warum bin ich behindert, warum bin ich die einzige Person im Rollstuhl in meinem direkten Umfeld, warum werde ich gesellschaftlich ausgeschlossen? Da schickt man schon mal Anklagen nach oben. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass es irgendeinen Menschen gibt, der mit allem im Leben glücklich ist. Ich selbst kann auch nach solchen Phasen sagen: Ich bin dankbar, dass ich so bin, wie ich bin; es gehört zu mir und ich würde es nicht missen wollen.
Was wünschen Sie sich von Ihrer Kirche?
Dass sie zu ihren Wurzeln zurückkehrt. Die Kirche hat sich darin eingerichtet, eine bürgerliche Institution zu sein, die das Leben begleitet. Jesus hatte aber eine ganz andere Message: Seid füreinander da, seid radikal freundlich, übt euch in Akzeptanz und Inklusion! „Dein Reich komme, wie im Himmel, so auf Erden“, beten wir doch im Vaterunser – darin ist so viel Dynamit; das sollte ab und zu auch gezündet werden! Dann würde sie auch jüngere Leute wieder ansprechen. Die digitalen Formen in der Corona-Zeit sind ein gutes Beispiel dafür. Für mich selbst habe ich ein paar ganz praktische Wünsche: Stellt Stühle in die Kirchenräume, keine Bänke, damit ich nicht außen vorstehen muss. Und feiert das Abendmahl nicht immer vor dem Altar mit den Stufen. Unten im Kirchraum ist es nicht weniger heilig!