Nach Persönlichkeiten wie Nadia Bolz-Weber sehnen sich viele lutherische Christen aus dem liberalen Lager: Charismatisch, aber nicht evangelikal; Tattoos, rebellischer Look und doch theologisch so ur-lutherisch, wie man es sich kaum „orthodoxer“ ausmalen könnte. Kürzlich war die US-Pfarrerin und Bestsellerautorin auf Buchpräsentationstour in Europa. Auch in Deutschland wird sie immer populärer. Auf ihrer Reise machte sie einen Stopp in München.
Ein Haus für alle Sünder und Gerechten
Nadia Bolz-Weber musste so manche Kritik einstecken. Als „Pastrix“ wurde sie im Internet bezeichnet. Kritiker versuchten die tätowierte lutherische Theologin mit der lateinischen Feminisierung des Worts Pastor herabzusetzen – damals, als sie das „House for All Sinners and Saints“ (Haus für alle Sünder und Gerechten) im us-amerikanischen Denver (Colorado) gründete. Dort sammelte sie Tätowierte, Schwule, Lesben, vom Leben Gezeichnete und vom christlichen Glauben Enttäuschte um sich. Liturgisch traditionell, aber sozial progressiv – mit einer solchen Gemeinde stellt Bolz-Weber den protestantischen Mainstream in den USA auf den Kopf. Sie würde sagen: vom Kopf auf die Füße.
Nadia Bolz-Weber schrieb ein Buch: „Pastrix: The Cranky, Beautiful Faith of a Sinner and Saint“. Inzwischen ist ihr Buch auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel: „Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen: Pastorin der Ausgestoßenen“. Das Buch schaffte es auf die Bestsellerliste der New York Times.
Die 1969 geborene US-Amerikanerin beschreibt darin, wie sie in ihrer Jugend gegen ihre christlich-fundamentalistische Familie rebellierte, im Drogensumpf und im Alkohol versank, mit ungezählten Partnern Sex hatte, sich als Komikerin in einem Nachtklub von Denver versuchte. Sie wurde Teil der „Unterseite“ der Gesellschaft, schreibt sie, der „Außenseiter, Zyniker, Alkoholiker, schrägen Vögel“. Und sie beschreibt, wie sie sich schließlich zu einem Theologiestudium berufen fand und zur lutherischen Pfarrerin wurde.
Es begann mit acht Leuten im Wohnzimmer
Acht Leute in ihrem Wohnzimmer in Denver – so fing 2008 ihre Gemeinde an. Acht Jahre später in der gut gefüllten Münchner Bischofskirche St. Matthäus hat Nadia Bolz-Weber bereits den zweiten Bestseller im Gepäck. „Accidental Saints: Finding God in All the Wrong People“ (deutscher Titel: „Unheilige Heilige. Gott in all den falschen Leuten finden“).
Ursprünglich habe sie für dieses Buch den Titel „Purpose Driven Sinners“ im Sinn gehabt, aber der Verlag habe ihr das ausgeredet, sagt sie. Vermutlich auch deswegen, weil sich der evangelikale Pastor Rick Warren von der kalifornischen „Saddleback“-Megakirche die Formulierung „purpose driven“ als Marke hat schützen lassen. Warrens 1995 erschienenes Buch „The Purpose Driven Church“ (deutsch „Leben mit Vision“) hat sich millionenfach verkauft und wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Warren ist Baptist und gehört damit der größten protestantischen Denomination in den USA an. Er gilt als „moderater Konservativer“ und versucht mit seiner Kirche seit ein paar Jahren auch in Deutschland Fuß zu fassen.
Nadia Bolz-Weber zieht nicht Zehntausende in den Gottesdienst wie Saddleback in Kalifornien. Ihre Gemeinde ist immer noch klein. Etwa 300 schräge Vögel aller Altersklassen und Geschlechter sind es heute, noch ein Pfarrer ist dazugekommen. Sie alle lieben ihre Nadia, die traditionelle Liturgie und die Gottesdienste, in denen keine Lobpreis-Popbands spielen, sondern die alten Kirchenlieder gesungen werden. Eine außergewöhnliche, und doch völlig normale Gemeinde der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Amerika (ELCA).
Bolz-Weber sieht in vielem, was in den evangelikalen Megakirchen gepredigt wird, eine Pervertierung des Erlösungswerks Gottes: Wenn die Kirche die Frage der Sünde auf moralische Fragen herunterbreche, „dann fangen wir an zu glauben, dass wir die Sünde durch moralisches Handeln bekämpfen können“. Es geht aber, Luther wusste das, um etwas ganz anderes. Wir Menschen sind gerechtfertigt in Christus. Aber wir bleiben Sünder.
Ob christlich-kirchliche „Reinheitskultur“ oder „New-Age-Yogakultur“ – immer gehe es um „Schmirgelpapier, um unsere Kanten abzuschleifen“. Aber genau dieser Versuch der Selbstperfektionierung verfehlt den Kern des Evangeliums, ist Ausdruck des in sich selbst verkrümmten Menschen: Selbstbezogenheit statt Ausrichtung auf Gott und die Mitmenschen – das ist das Wesen der Sünde, predigt Nadia Bolz-Weber.
Gerade „unsere Fehler, Versagensmomente und Wunden sind das Gewebe, das uns miteinander und mit Gott in Verbindung bringt“. Wir Menschen, sagt sie zum Beispiel, hätten eine grandiose Fähigkeit, selbst die besten Dinge in Sünde zu verkehren. Sogar Liebe, Mildtätigkeit und Barmherzigkeit, wenn wir uns dann besser als andere und ihnen überlegen fühlten. „Ich habe keinerlei Idealismus, was menschliches Handeln angeht, aber absoluten Idealismus, was Gottes Erlösungswerk betrifft.“ Und sie sage eigentlich nie etwas Originelles: „Ich klaue die ganze Zeit bei Luther.“
Übrigens hat Nadia Bolz-Weber eine Staatsmeisterschaft im Gewichtheben gewonnen. Sie reißt auch mit Mitte 40 noch locker 70 Kilo aus dem Stand. Sie schreibt Andachten über ihre Erfahrungen beim Training in der Muskelbude. Sie hat einen (Ex-)Mann, zwei Kinder und eine dänische Dogge namens Zachäus. Ihr erstes Tattoo ließ sie sich stechen, als sie 17 war. Es war eine Friedenstaube. Als sie Theologie studierte, kam eine großflächige Maria Magdalena auf dem rechten Arm dazu. Ihr linker Arm ist ein Gesamtkunstwerk, das um das liturgische Jahr kreist. Alle ihre bunten Tattoos haben mit dem Evangelium zu tun.
Trennung von Staat und Kirche liegt ihr im Blut
Nadia Bolz-Weber „verkörpert“ etwas: ein progressives Christentum, das Muskeln zeigt, das eine Bekehrungserfahrung und pietistische Inbrunst mit lutherischer Geistesklarheit und sozialer Gerechtigkeit verbindet. Ur-lutherische Predigt wird bei Nadia Bolz-Weber zu krachendem Rock ‚n‘ Roll, klingt neu, unverbraucht, zeitlos.
Woran liegt es, dass bei ihr der evangelisch-lutherische Funke überspringt, andernorts mehr Verwaltungs- oder Niedergangs-Blues herrschen? Was die US-Pastorin dazu zu sagen hat, dürfte denen nicht schmecken, die von „Volkskirche“ reden und staatlich alimentierte Amtskirche meinen. Bolz-Weber sagt, die Trennung von Staat und Kirche sei Teil ihrer DNA. Sie finde es „absurd“, dass ein christlicher Pastor „Beamter im öffentlichen Dienst“ sein solle – „wie ein Postbote zuständig für einen Sprengel“. Wie könne man einen Menschen beerdigen, den man gar nicht kennt?
Immer wieder begegne ihr in den Predigerseminaren eine Frage von jungen Theologen: Wie kann ich ein guter Diener der Kirche sein und zugleich ich selbst bleiben? Eine Frage als Problemanzeige, die jede Kirche beschämen müsse, meint Bolz-Weber. Auf Pfarrkonferenzen sehe es ähnlich aus: Hinter vorgehaltener Hand gestehen viele, dass sie eine Rolle spielen, oft nur die Fassade aufrechterhalten.
Zu eigenen Fehlern, Ecken und Kanten stehen
Ein moralisches Christentum der Selbst- oder Gesellschaftsperfektionierung, Kultur-Pendelei, die zwischen privat und Kirchenjobfassade unterscheidet, der Zwang, Teile von sich auszuklammern – all das muss zwangsläufig in die Lüge führen, weiß Bolz-Weber: „Ich glaube nicht, dass Kirchenleitende so tun sollten, als seien sie etwas, das sie nicht sind.“ Stattdessen sollten sich Christen freier zu ihrer Sündhaftigkeit, ihren Ecken und Kanten bekennen – und mehr von der grundstürzenden, unverdienten Gnade Gottes reden, der uns in Jesus Christus die Sünde vergeben hat.
Buchtipps: Nadia Bolz-Weber: Unheilige Heilige. Gott in all den falschen Leuten finden. Brendow Verlag, 256 Seiten, 18 Euro. Nadia Bolz-Weber: Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen: Pastorin der Ausgestoßenen. Brendow Verlag, 256 Seiten, 16,95 Euro.