Der neue Berliner “Tatort” macht auf das Schicksal der deutschen Ortskräfte in Afghanistan und das Versagen der damaligen Bundesregierung aufmerksam. Das ist so gelungen wie mutig, findet ein Afghanistan-Experte.
Tatort Friedrichstraße: Direkt vor dem S-Bahnhof im Zentrum Berlins wird der smarte Jungpolitiker Jürgen Weghorst am helllichten Tag erschossen. Der hatte sich nach einem Skandal erst einmal aus dem parlamentarischen Geschäft zurückgezogen und machte jetzt Lobbyarbeit für einen Lebensmittelverband.
Bei ihren Ermittlungen treffen Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Robert Karow (Mark Waschke), das neue Team des RBB-“Tatorts”, beim Verband auf eine Mauer des Schweigens. Das entlockt Karow ein paar schön-schnoddrige Sprüche, während Bonard den Good Cop gibt. Doch die beiden kriegen Druck von oben – und das Morden geht weiter. Karow ermittelt im Lobby-Milieu, wo prompt vor seinen Augen auf einem schicken Empfang Politikberaterin Elizabeta Alvarez (Clelia Sarto) erschossen wird.
Nach und nach erschließt sich ein Zusammenhang: Die Opfer haben alle mit einem verkorksten PR-Trip nach Afghanistan kurz vor dem Fall Kabuls an die Taliban 2021 zu tun. Sie kamen noch in letzter Minute heraus. Anders als die vielen sogenannten Ortskräfte, die über Jahre die Bundeswehr und Deutschland in Afghanistan unterstützt hatten und die eigentlich auch evakuiert werden sollten. Ins Visier der Ermittlungen gerät die Aktivistin Soraya Barakzay (Pegah Ferydoni), die selbst aus Afghanistan geflüchtet ist und sich für die Rechte der Ortskräfte engagiert. Sie hatte Weghorst bei einer Demonstration verbal attackiert. Barakzay hat auch tatsächlich mit dem Fall zu tun – aber ganz anders, als man am Anfang denkt.
Der Journalist Christian Schweppe recherchiert seit langem unter anderem für die “Zeit” zum chaotischen deutschen Rückzug 2021 und den Umgang mit den Ortskräften. Seine Arbeit ist mehrfach preisgekrönt, zuletzt ist sein Buch “Zeiten ohne Wende” über den Umgang der aktuellen Bundesregierung mit dem Krieg in der Ukraine erschienen – der nächsten großen sicherheitspolitischen Herausforderung nach Afghanistan.
“Hier wird ein sehr aktuelles und auch brisantes Thema in einem TV-Krimi verarbeitet”, sagt Schweppe, nachdem er sich “Vier Leben” anschauen konnte. Denn die Geschichte sei “auch im realen Leben sehr brisant.” Der Film ist natürlich Fiktion, die Ausgangslage aber real: Die Taliban sind zurück in Afghanistan und stehen kurz vor der Einnahme Kabuls. “Die Bundesregierung hat es damals unterlassen, den Ortskräften, die für Deutschland gearbeitet haben, rechtzeitig zu helfen”, so Schweppe.
Und dieses Unterlassen ordne der “Tatort” so engagiert wie richtig ein: “Es gibt eine gute Szene, da kommentiert die von Corinna Harfouch gespielte neue Kommissarin diese gesamte Geschichte mit dem Satz: ‘Ich habe keine Worte’. Das finde ich sehr angemessen”, meint Schweppe. Denn der Umgang mit Menschen, die jahrzehntelang für deutsche Werte in Afghanistan gearbeitet haben und dann zurückgelassen worden, sei eben “eine große moralische Frage”.
Der Groll der damals Beteiligten, der in “Vier Leben” eine entscheidende Rolle spielt, den gebe es bis heute, so Schweppe: “Da rede ich jetzt wirklich über die reale Situation und nicht über die Tatort-Kriminalgeschichte. Da sind viele Beamte auf den unteren Ebenen, die damals alles versucht hatten, doch noch so viele Menschen wie möglich rauszuholen. Oder die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die von der Bundesregierung in letzter Minute zur Evakuierung dorthin geschickt wurden.” Sie hätten der damaligen Bundesregierung “bis heute nicht verziehen, dass es auf der Führungsebene überhaupt keine Vorbereitungen gab”.
Frustrierend – und auch das blitzt hier und da im “Tatort” auf – sei zudem, dass in der realen Geschichte alle politischen Entscheidungsträger, die involviert waren, bisher keine Konsequenzen tragen mussten. Schweppe begrüßt, dass “Vier Leben” das Thema aufgreift und darauf aufmerksam macht, dass sich die deutsche Öffentlichkeit damit auseinandersetzen müsse: “Ich glaube, es gibt schon ein gewisses Desinteresse an diesem Thema in Deutschland. Viel zu wenige haben wirklich verstanden, dass die Situation der Ortskräfte genauso ernsthaft debattiert gehört wie aktuelle politische Fragen rund um Migration, Abschiebungen oder eben auch Gewalt.”