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Tag der Entscheidung

Vier Gesetzentwürfe liegen vor. Am 6. November will der Bundestag darüber beraten und in einer Abstimmung ohne Fraktionszwang entscheiden. Die evangelische Haltung erläutert Ethiker Lars Klinnert von der evangelischen Fachhochschule RWL Bochum

picture alliance / dpa

Die Zeit der Entscheidung naht: Vier Abgeordnetengruppen haben in den vergangenen Monaten zum Thema „Sterbehilfe“ unterschiedliche Gesetzentwürfe vorgestellt; der Bundestag will am 6. November darüber beraten und in einer Abstimmung ohne Fraktionszwang entscheiden. Was ist zu erwarten? Welche Haltung nimmt die evangelische Kirche dazu ein? Gerd-Matthias Hoeffchen sprach mit Lars Klinnert, Professor für Ethik am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

Vier Entwürfe liegen den Abgeordneten vor. Für welchen werden sie sich entscheiden?
Das kann man im Moment nur mutmaßen und damit natürlich auch falsch liegen. Ich tippe aber auf den Entwurf von über 170 Abgeordneten um die SPD-Politikerin Kerstin Griese, eventuell mit Abänderungen durch das Bundestagsplenum.

Dieser Entwurf steht quasi in der Mitte …
Das könnte man so sagen. Die Beihilfe zum Suizid bliebe erst einmal straffrei. Aber sie wäre immer dann verboten, wenn sie „geschäftsmäßig“, also mit Wiederholungsabsicht, geleistet wird. Ärztinnen und Ärzte würden demnach bestraft, wenn sie regelmäßig handeln, genauso wie entsprechende Vereine – ob kommerziell oder nicht.

Und die anderen Entwürfe?
Es gibt zwei deutlich liberalere Vorschläge: Die ärztliche Suizidbeihilfe würde damit ausdrücklich freigegeben und reguliert. Der vierte Entwurf fordert ein Totalverbot.

Sollte der Bundestag für den vermittelnden Entwurf entscheiden, würde er sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung stellen: 74 Prozent der Menschen in Deutschland befürworten, dass Sterbehilfe deutlich erleichtert werden soll.
Die Aufgabe der Parlamentarier ist es ja nicht, in jedem Fall den moralischen Einstellungen der Bevölkerungsmehrheit zu folgen. Sie sind gewählte Volksvertreter und müssen eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen. Dabei ist es ihre Pflicht, für eine bestmögliche Einhaltung  und Umsetzung der Grundrechte zu sorgen.

Wo genau liegt denn das Pro­blem? Wenn jemand zu dem Schluss kommt, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist – ist es dann nicht sein gutes Recht, es zu beenden und dabei Hilfe zu suchen?
Im Kern geht es um die Achtung der Menschenwürde. Diese Würde kommt jedem Menschen unverlierbar zu. Natürlich kann ein Mensch sein Leben als würdelos empfinden. Aber im ethischen Sinne verliert es auch durch entwürdigende Umstände nicht seinen Achtungsanspruch.

Auch ich selbst darf mir meine Würde nicht absprechen?
Wenn der Respekt vor meinem Leben davon abhängig wäre, ob andere Menschen oder ich selbst es als wertvoll beurteilen, könnten sich bedrückende Szenarien ergeben: Stellen Sie sich etwa einen pflegebedürftigen Menschen vor, der sein Leben beenden will, um seinen Angehörigen nicht mehr zur Last zu fallen … Jedes menschliche Leben ist wertvoll – ohne Bedingungen. Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, sich klar und deutlich zu diesem Vorrang des Lebens zu bekennen.

Dann dürfte man überhaupt keine Selbsttötung akzeptieren.
Die kirchliche Haltung hierzu hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Evangelische Christen akzeptieren, dass jemand in eine Grenzsituation gelangen kann, in der ihm die Selbsttötung als einziger Ausweg erscheint. Trotz medizinischer und psychologischer Begleitung kann es dazu kommen, dass ein leidender Mensch nicht mehr weiterleben will.

Aber Hilfe bei anderen dabei finden darf er dann nicht …
Wenn jemand sein Leben als nicht mehr lebenswert empfindet, ist das seine persönliche Einschätzung. Wenn er hingegen einen anderen Menschen um Hilfe dabei bittet, sein Leben zu beenden, nötigt er ihn damit, diese Einschätzung zu übernehmen: „Dieses Leben hat seinen Wert verloren.“ Ein solches Urteil über ein anderes Leben steht niemandem zu. Es geht nicht darum, dass ein leidender Mensch seine Situation stets würdevoll ertragen müsste. Seine Mitmenschen  jedoch sind dazu aufgefordert, ihm durch Beistand und Fürsorge sein Leben noch so erträglich wie möglich zu gestalten – anstatt an dessen Beendigung mitzuwirken.

Trotzdem hat der damalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider öffentlich erklärt, er würde seiner an Krebs erkrankten Ehefrau Anne zur Seite stehen, falls sie in den Freitod gehen wollte.
Nikolaus Schneider hat gesagt, er würde aus Liebe auch gegen seine persönliche Überzeugung handeln. Das ist ein Gewissenskonflikt: Besteht er auf seiner ethischen Grundhaltung und lässt seine Frau im Stich – oder steht er ihr am Lebensende bei, auch wenn er ihre Entscheidung nicht gutheißt?

Das Problem ist, solche Ex­tremfälle in Paragraphen zu fassen …
Bislang ist die Suizidbeihilfe in Deutschland straffrei. Ob Medizi­nerinnen und Mediziner bei der Selbsttötung helfen dürfen, ist innerhalb der Ärzteschaft allerdings umstritten – und in den Standesordnungen zudem uneinheitlich geregelt. Deshalb bemüht sich der Gesetzgeber, eine klarere Linie zu finden. Ansonsten würde vermutlich die Diskussion immer wieder neu aufflammen.

Eine besondere Herausforderung sind dabei die neu entstandenen Vereine, die Suizidbeihilfe organisieren.
Hier geht es nicht mehr um ärztliche Einzelentscheidungen, sondern um Beihilfe zum Suizid als mehr oder weniger frei verfügbares Angebot. So etwas gibt es übrigens nicht nur in der Schweiz, sondern bereits auch in Deutschland. Diese Praxis gilt es zu unterbinden. Denn sie betrachtet Sterbehilfe letztlich als gleichwertige Alternative zu Suizidprävention, Hospizarbeit und Palliativmedizin.

Interessant ist, dass bei dieser Diskussion die Kirche als Ratgeber gefragt ist.
In Grenzfragen wollen viele – auch Politikerinnen und Politiker – hören, was die Kirche zu sagen hat. Rund um Leben und Tod wird dem christlichen Glauben eine besondere Kompetenz zugestanden. Allerdings gibt es manchmal auch Kritik, kirchliche Funktionäre wollten der Bevölkerungsmehrheit ihre Meinung aufzwingen. Die Kirchen müssen noch stärker deutlich machen, dass es ihnen nicht um die Durchsetzung religiöser Forderungen geht, sondern um einen Beitrag zur gesellschaftlichen Wertediskussion.

Wie kann die Kirche das machen?
Sie muss die Balance finden, ihre Werte zu vertreten, ohne ins Moralisieren zu verfallen. In der Debatte um die Sterbehilfe gelingt das meiner Einschätzung nach recht gut. Die Kirche macht die Gründe deutlich, aus denen sie assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe ablehnt: Eben nicht, weil sie gegen die individuelle Selbstbestimmung wäre –  sondern weil sie an der Vorstellung festhält, dass die unbedingte Achtung vor dem  menschlichen Leben eine schützenswerte Grundlage unserer Gesellschaft darstellt.