In den vergangenen fünf Jahren führte die psychosoziale Diakonie-Beratungsstelle „Pflege in Not” mehr als 6000 Gespräche mit Pflegenden und Angehörigen. Zum 25-jährigen Jubiläum der Einrichtung gibt Leiterin Mara Rick Einblicke in die tägliche Arbeit und spricht über die Herausforderungen, die in der Pflege bestehen.
Frau Rick, herzlichen Glückwunsch zum 25-jährigen Bestehen der Beratungsstelle „Pflege in Not“. Was können Angehörige tun, um Anzeichen von Gewalt in der Pflege frühzeitig zu erkennen und zu handeln?
Mara Rick: Gewalt hat auch, aber nicht ausschließlich, mit körperlicher Gewalt zu tun. Auch eine unfreundliche Ansprache oder nachlässige Pflege kann als gewaltvoll empfunden werden. Angehörige sollten wachsam sein und beobachten, ob sich im Verhalten des Angehörigen etwas verändert, ob er oder sie sich plötzlich zurückzieht oder niedergeschlagen wirkt. Dann sollten sie nachfragen. Bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist das natürlich etwas schwieriger –da kann die Umgebung helfen. Die Fachkräfte im Pflegeheim oder beim Pflegedienst können oft sagen, ob ihnen eine Veränderung auffällt.
Wenn pflegende Angehörige selbst merken, dass bei ihnen Aggressionen hochkochen, dann ist es dringend Zeit für eine Pause – oder für einen Anruf bei uns.
Wie kann man sich eine Beratung bei Ihnen vom Erstkontakt bis zur Klärung des Falls vorstellen?
Viele rufen in Situationen an, in denen sie sehr aufgebracht sind und wo im Kopf sehr viel durcheinander geht. Wir helfen dabei, das Chaos im Kopf zu sortieren, indem wir schauen: Was ist wichtig, welche Möglichkeiten gibt es, wer ist sonst noch beteiligt? Wir begleiten die Klient*innen, soweit sie es möchten. Manche gehen alleine weiter, andere wollen länger Unterstützung. Wenn es gewünscht ist und nötig, sind wir auch bei Gesprächen im Heim dabei und vermitteln zwischen den beiden Parteien.
Welche Rolle spielt der Fachkräftemangel in der Pflege in Bezug auf die Konflikte und Gewaltsituationen, die Sie bei Ihren Beratungen beobachten?
Gerade Pflegebedürftige mit besonderen Bedürfnissen haben hier das Nachsehen. Denn ihre Pflege ist aufwändiger und braucht mehr Zeit und Professionalität. Umfänglich ausgebildete Pflegefachkräfte können mit schwierigen Situationen oft besser umgehen. Zudem leiden viele Pflegedienste und stationäre Einrichtungen schlicht unter Personalmangel, was ebenfalls zu Konfliktsituationen und Gewalt führen kann – sowohl gegen pflegebedürftige Menschen als auch gegen Pflegende.
Wie gehen Sie in Ihren Fortbildungen und Fallbesprechungen auf das Thema Gewaltprävention ein?
Uns ist es sehr wichtig, Mitarbeitende zur Selbstreflexion zu bringen. Gewalt kommt leider regelmäßig in der Pflege vor. Das geht bei einem rüden Tonfall los bis zu Beschimpfungen oder sogar im Extremfall bis zu körperlicher Gewalt. Wir sensibilisieren die Pflegepersonen in Blick auf einen achtsameren Umgang mit den pflegebedürftigen Menschen.
Einer unserer Ratschläge: Aus der Situation rausgehen, durchatmen oder, wenn es möglich ist, eine andere Person bitten, kurzfristig nach der pflegebedürftigen Person zu schauen. Wenn es ganz schlimm wird: Uns anrufen. Wir wissen aus Rückmeldungen, dass es helfen kann, sich in einem geschützten Rahmen auszusprechen und ein Gegenüber zu haben, das zuhört, empathisch ist und nicht verurteilt.
Wie hat sich die Wahrnehmung des Tabuthemas Gewalt in der Pflege in der Öffentlichkeit in den vergangenen 25 Jahren verändert?
Über Gewalt in der Pflege zu sprechen, ist immer noch ein Tabu, aber durch den sich zuspitzenden Fachkräftemangel ist es präsenter, dass es ein Thema ist, mit dem man sich immer wieder auseinandersetzen muss. Vor allem im Bereich der professionellen Pflege wird das inzwischen zum Glück in die Ausbildung integriert. Wir werden regelmäßig von Pflegeschulen angefragt und geben den Auszubildenden dort Workshops. Aber es ist noch viel zu tun – und das wird sich mit Blick auf den demografischen Wandel nicht ändern.
Pflegebedürftige, pflegende Angehörige und Beschäftigte in der Pflege haben die Möglichkeit, sich berlinweit kostenfrei und auf Wunsch anonym beraten zu lassen. Sprechzeiten: Montag, Mittwoch, Freitag 10–12 Uhr, Dienstag 14–16 Uhr und Donnerstag 16–18 Uhr; Telefon: 030/69 59 89 89, www.pflege-in-not.de