Gestern erinnert der Welttag für das Recht auf Wahrheit an die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen und an die Notwendigkeit, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten. Die Wahrheit ist ein politischer Faktor – und ihre Unterdrückung ein Herrschaftsinstrument. Dies galt auch für die Assad-Diktatur in Syrien, deren Ende keine automatische Befreiung bedeutet. Drei Monate nach ihrem Sturz ist das Land geprägt von Unsicherheit, Racheakten und einer tief gespaltenen Gesellschaft. Doch wie kann eine nachhaltige Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes und des Bürgerkriegs gelingen? Welche Lehren lassen sich aus dem deutschen Umgang mit der Vergangenheit ziehen – und wo liegen die Grenzen solcher Vergleiche?
Syrien: Aufarbeitung ist ein vielschichtiger Prozess
Der Blick auf Deutschland und andere postdiktatorische Gesellschaften zeigt: Aufarbeitung ist ein vielschichtiger Prozess. Er beginnt mit der Anerkennung der Opfer, der Klärung ihrer Schicksale und der juristischen Ahndung der Täter. Doch er umfasst weit mehr. Es geht um eine tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzung, um Forschung, Bildung und Aufklärung, um Transparenz staatlicher Archive und um eine klare Absage an Geschichtsvergessenheit. Hierzu bedarf es den politischen Willen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich mit den Verbrechen, dem Unrecht und den Gräueln der Vergangenheit zu befassen.
Lösungen von außen helfen meist nicht
Dabei gilt: Jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg finden. Lösungen können nicht einfach von außen übertragen werden. Geschichte, Kultur, Machtstrukturen – all das prägt, wie eine Aufarbeitung gelingen kann. Deutsche Erfahrungen bieten Orientierung, aber keine Blaupause.
Unzählige Menschen wurden unter der Assad-Diktatur in Geheimgefängnissen inhaftiert, gefoltert und ermordet. Orte wie Sednaya oder Tadmor stehen für ein Gewaltsystem, das bis zuletzt Opposition systematisch unterdrückte. Hinzu kommen die Verbrechen während des Bürgerkriegs. Viele Familien wissen bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Eine der ersten Aufgaben nach dem Sturz einer Diktatur ist daher die Schicksalsklärung. Die Opfer müssen nicht nur juristisch, sondern auch gesellschaftlich rehabilitiert und entschädigt werden.
Diktatur verschwindet nicht einfach
Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass ein diktatorisches System mit seinem Sturz automatisch verschwindet. Die Gewalt hinterlässt tiefe Spuren, die über Generationen wirken. Der Wiederaufbau von Vertrauen in staatliche Institutionen gelingt nur, wenn die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden – und zwar rechtsstaatlich.
Die juristische Aufarbeitung ist oft schwierig. Diktaturen dokumentieren ihre Verbrechen selten offen. Akten werden vernichtet, Täter verwischen ihre Spuren. Dennoch sind Strafprozesse ein zentrales Element jeder Vergangenheitsbewältigung. Der Prozess gegen einen ehemaligen syrischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland zeigt: Selbst Jahrzehnte nach den Taten ist eine strafrechtliche Verfolgung möglich. Dabei müssen Verfahren fair und rechtsstaatlich bleiben. Denn aus der Aufarbeitung darf kein neues Unrecht entstehen. In Deutschland hat die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley das Dilemma vieler Opfer auf den Punkt gebracht: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Aber Rechtsstaatlichkeit ist der einzige Weg, um neues Unrecht, Willkür und Rache zu verhindern.
Gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess ist nötig
Neben der juristischen Ahndung braucht es einen umfassenden gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess. Nach den Erfahrungen einer nur zögerlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hat Deutschland nach 1990 einen breiten Ansatz für die Aufarbeitung der SED-Diktatur gewählt: Neben der Öffnung aller Akten des Regimes einschließlich der Stasi-Akten und der strafrechtlichen Verfolgung von Täterinnen und Tätern wurde auf Forschung, Bildung und Aufklärung gesetzt. Historische Orte wurden zu Gedenkstätten, Zeitzeugen berichteten, Schulbücher und Lehrpläne wurden überarbeitet.
Andere Länder wählten unterschiedliche Wege. In Südafrika oder Chile gab es Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die weniger auf Bestrafung als auf Transparenz setzten. Spanien und Argentinien hingegen schlossen nach dem Ende ihrer Diktaturen lange Zeit einen „Schweigepakt“. Dies geschah auf Kosten der Opfer.
Ob und in welcher Form ein ähnlicher Prozess in Syrien möglich wäre, ist derzeit ungewiss. Vieles hängt von der politischen Entwicklung ab: Wird es ein neues autoritäres Regime geben oder eine demokratische Gesellschaft? Diese Frage wird entscheidend dafür sein, welche Art der Aufarbeitung überhaupt denkbar ist.
Die Rolle der DDR in Syrien
Auch Deutschland hat eine historische Verbindung zu Syrien. Während des Kalten Krieges unterhielt die DDR enge Beziehungen zum Assad-Regime. Der syrische Geheimdienst wurde in Ost-Berlin geschult, technische Überwachungstechniken wurden weitergegeben. Diese Zusammenarbeit stützte das Regime und stärkte seine Repressionsmechanismen.
Die Aktenlage zu dieser Kooperation ist jedoch lückenhaft. Viele Dokumente sind verschwunden. Sollte es eines Tages möglich sein, syrische Geheimdienstarchive zu öffnen, könnten sich neue Erkenntnisse ergeben – auch über die Rolle der DDR.
Vergangenheitsbewältigung ist keine Frage des guten Willens allein, sondern eine der politischen Möglichkeiten. Wer das Recht auf Wahrheit einfordert, der weiß: Es gibt kein automatisches Anrecht auf Aufarbeitung, nur weil ein Unrechtsregime gestürzt wurde. Ohne Akten, ohne Institutionen, ohne gesellschaftlichen Konsens bleibt die Wahrheit ein umkämpftes Gut. Deutschland konnte nach 1990 auf eine bestehende demokratische Ordnung aufbauen, Syrien muss diesen Weg erst noch finden. Die deutsche Erfahrung zeigt: Aufarbeitung ist mühsam, oft unbefriedigend, aber unverzichtbar – weil ohne sie kein Frieden von Dauer sein kann.