„Wievielmal haben Sie heute schon gelogen? Zweimal, zehnmal oder gar fünfzigmal?“ So fragt eine große Schautafel die Besucher am Ende des Rundgangs durch die neue Sonderausstellung „Akte Rumpelstilzchen. Eine Spurensuche in Märchen und Recht“ in der Kasseler Grimmwelt (29. September bis 14. April 2024). Zur Beantwortung stehen Sticker bereit, die jeder Besucher über der entsprechenden Zahl aufkleben kann. Zuvor aber gilt es, sich dem Thema Gut und Böse, Recht und Unrecht sowie Gerechtigkeit und Recht zu stellen – nicht nur, aber eben auch im Märchen.
Die Märchen „Rumpelstilzchen“, „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ sowie „Das tapfere Schneiderlein“ stehen stellvertretend für solche Themen im Märchen. Wer diese Erzählungen nicht kennt, kann sie sich im ersten Teil der in drei Bereiche gegliederten Ausstellung an einer Hörstation anhören, wahlweise auf Deutsch oder Englisch. „Je länger wir uns mit dem Märchen ‘Rumpelstilzchen’ befasst haben, desto mehr galt unsere Sympathie dieser übernatürlichen Helferfigur“, beschreibt Ute Lilly Mohnberg, die die Ausstellung mit konzipiert hat, die Ambivalenz der Märchenfiguren. Denn eigentlich habe dieses Wesen ja nichts Unrechtes getan und sich an seine Absprachen gehalten. Und der Teufel in dem Märchen mit den drei goldenen Haaren sei dort gar nicht eindeutig der Bösewicht.
„Wir wollen die Leute spielerisch an die Fragen von Recht, Unrecht und Gerechtigkeit heranführen“, erläutert der Programmleiter der Grimmwelt, Jan Sauerwald. So kann man etwa beim Märchen „Rumpelstilzchen“ mit Holzklötzen, die in eine Waage gelegt werden, Sympathien für die Müllerstochter oder für das Rumpelstilzchen bekunden.
Ein zweiter Teil der Schau befasst sich mit der wenig bekannten Ausbildung der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm als Juristen. Das 1.000-seitige Werk „Deutsche Rechtsalterthümer“, 1828 von Jacob Grimm veröffentlicht, sei kaum bekannt, erklärt Sauerwald. Dabei habe die juristische Ausbildung der Brüder die Bearbeitung der von ihnen gesammelten Märchen stark beeinflusst. So manches Märchen habe seine klare Unterscheidung von Recht und Unrecht, Gut und Böse erst durch die Hand der beiden Gelehrten erfahren, die auch pädagogische Zwecke verfolgten.
Dies hatte auch politische Konsequenzen. Die Schau zeigt eine erstmals ausgestellte Zeichnung von Ludwig Emil Grimm aus dem Jahr 1830 von der „Brotschlacht“ in Kassel, als es dort zu Unruhen wegen Brotmangels und steigender Preise kam. Dass die Brüder mutige Demokraten waren, zeigt nicht nur ihre Suspendierung als Teil der „Göttinger Sieben“ von der Universität Göttingen, als sie dort 1837/38 gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten. Auch das Engagement von Jacob Grimm auf der Frankfurter Paulskirchenversammlung 1848 findet Erwähnung und bietet interessante Einblicke in das gesellschaftliche Wirken der Grimms. Mehr Hintergründe erläutert eine eigens für die Ausstellung entwickelte App vor Ort.
Im dritten Teil der Ausstellung geht es um Recht und Unrecht in der heutigen Zeit. Die Besucher erfahren, dass das 2019 von der EU beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz in Deutschland erst im Juni mit Rechtskraft umgesetzt wurde. Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang der Geheimdienst-Whistleblower Edward Snowden, an dem sich die Fragestellung von Recht und Unrecht kristallisiert. 2016 wurde er in Kassel mit dem Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ ausgezeichnet, konnte diesen aber wegen eines Auslieferungsersuchens der USA wegen Geheimnisverrats bisher nicht abholen. Für die Zeit der Ausstellung steht die sonst im Stadtmuseum Kassel ausgestellte Skulptur nun in der Grimmwelt.
Schließlich darf auch die Musik nicht fehlen, die ebenfalls Fragen von Recht und Unrecht aufgreift. Das Spektrum der zehn ausgesuchten Stücke reicht vom Volkslied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ bis hin zu dem Song „Alles nur geklaut“ von den Prinzen. Endgültige Antworten zu den Fragen nach Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, so Sauerwald, liefere die Ausstellung nicht. Aber sie könne sensibilisieren für die Frage, wieviel Gerechtigkeit eigentlich im Recht stecke.