Wer muss an die Waffe – und dürfen strengreligiöse Juden stattdessen an den Schreibtisch? Diese Frage treibt Israel seit Jahren um, mit zunehmender Schärfe. Erneut könnte jetzt eine Regierung an ihr scheitern.
Über den Streit um eine Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden sind schon in der Vergangenheit israelische Regierungen gestürzt. Jetzt könnte erneut eine Koalition an der Frage nach dem Dienst an der Waffe auch für Israels strengreligiös-jüdischen Teil der Gesellschaft, die sogenannten Haredim, zerbrechen. Nach dem “Vereinten Torah-Judentum” droht auch die ultraorthodoxe Schas-Partei mit Koalitionsbruch, sollte es kein Eingehen auf ihre religiösen Forderungen geben.
Vor der vorläufigen Abstimmung am Mittwoch über einen Gesetzentwurf zur Auflösung der Knesset sind die politischen Spannungen hoch. Gegenwärtig verfügt die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin “Bibi” Netanjahu (Likud) über 68 der 120 Parlamentssitze. Durch den angekündigte Austritt der kleinen ultraorthodoxen Partei “Vereintes Torah-Judentum” mit sieben Sitzen wäre die Regierung fragiler, eine Mehrheit hätte der “Bibi-Block” aber weiterhin.
Dass sich am Montag mit der Schas der zweite – und mit elf Sitzen größere – strengreligiöse Koalitionspartner der Drohung einer Parlamentsauflösung anschloss, setzt Netanjahu nun unter Druck. Netanjahus Dilemma: Die seit Staatsgründung 1948 de facto herrschende Dienstbefreiung für Haredim, die statt wie alle anderen den obligatorischen Dienst an der Waffe zu leisten, religiöse Schriften studieren, stößt in Teilen seiner Koalition, in der Opposition, der Armee und immer größeren Kreisen der Gesellschaft auf Ablehnung. Das Oberste Gericht hat sie überdies als verfassungswidrig erklärt. Ihre Abschaffung und ein Wehrdienst für die Strengreligiösen wiederum könnte das Ende von Netanjahus politischer Karriere bedeuten.
Die Suche nach einem Kompromiss scheiterte bislang. Insgesamt 67.000 Haredim gelten als wehrdienstfähig. Rund 10.000 von ihnen erhielten nach Armeeangaben seit Sommer 2024 Musterungsbescheide – weniger als zwei Prozent von ihnen meldeten sich zum Dienst. Den Verweigerern begegnet die Armee mit Strafmaßnahmen, ein Schritt, der von den ultraorthodoxen Parteien als inakzeptabel angesehen wird.
Die Opposition nahm die Ankündigung der Ultraorthodoxen zum Anlass, gleich mehrere Vorstöße für eine Parlamentsauflösung zu starten. Über sie sollen die Abgeordneten an diesem Mittwoch erstmals entscheiden. Passiert der Vorstoß die erste Hürde, stehen drei weitere Abstimmungen an. An ihrem Ende könnten, Annahme vorausgesetzt, eine Auflösung der Knesset und vorgezogene Neuwahlen stehen. Laut Meinungsumfragen, die in Israel oft vom tatsächlichen Wahlverhalten abweichen, liefe die Opposition der gegenwärtigen Regierung den Rang ab. Regulär würde erst am 27. Oktober 2026 ein neues Parlament gewählt.
Es ist die bisher schwerste Krise der Regierung seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2022. Nach Ansicht von Beobachtern scheint sowohl eine Einigung in letzter Minute wie auch ein Scheitern nicht ausgeschlossen. Als wahrscheinlich gilt, dass Netanjahu versuchen wird, Zeit bis zur Sommerpause der Knesset zu gewinnen, die am 24. Juli beginnt. Nicht von ungefähr dürfte sein, dass auch die Koalition für Mittwoch zahlreiche Gesetzentwürfe eingereicht hat – was möglicherweise zu einer Verschiebung der Abstimmung über die Parlamentsauflösung und damit mehr Verhandlungszeit führen könnte.
Der Chef der rechtsradikalen Partei “Religiöser Zionismus”, Finanzminister Bezalel Smotrich, warnte unterdessen laut Medien davor, “die Regierung während eines Krieges zu demontieren”, und plädierte dafür, die sofortigen Sanktionen gegen ultraorthodoxe Wehrdienstverweigerer für das größere Ganze auszusetzen.